Thema | Kulturation 1/2007 | Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft | Redaktion | Ostdeutsche Kulturwissenschaft in der Erinnerung
| Die
Rubrik „Themen“ ist 2007 der Geschichte der ostdeutschen
Kulturwissenschaft gewidmet. Dabei soll auch auf die 1963 begonnene
universitäre Ausbildung zum Diplom-Kulturwissenschaftler zurückgeblickt
werden. Um zur Teilnahme an dieser „Erinnerungsarbeit“ anzuregen, hat
sich die Redaktion entschlossen, aus bereits veröffentlichten Texten zu
zitieren. Dies auch in der Erwartung, Hinweise auf weitere
Zeitdokumente zu erhalten.
Um die Debatte einzuleiten, hat die Redaktion zunächst fünf Texte
ausgesucht. Wir zitieren zwei Interviews mit prominenten Absolventen,
verweisen auf zwei Passagen aus der „schönen Literatur“ und zitieren
dann das, was der Germanist dazu zu sagen weiß, der 1993 den
entscheidenden kulturwissenschaftlichen Lehrstuhl in Berlin besetzte.
Dies ist als Anregung gedacht, denn vor allem wollen wir Raum
für die Beiträge vieler Kulturwissenschaftlerinnen über ihre
Studienzeit in Berlin oder Leipzig geben. Diese Erinnerungen werden
recht verschieden ausfallen, nicht nur, weil da zu unterschiedlichen
Zeiten studiert worden ist – anfangs der 1960er Jahre sah das Studium
anders aus als in den 70er, in den 80er oder gar in den 90er Jahren.
Das gilt auch für die obligatorischen Nebenfächer, die nach den
jeweiligen Neigungen gewählt worden sind. Solch Rückblick ist immer
auch geprägt durch die heutige soziale und berufliche Position, durch
das Gesellschaftsbild und die aktuellen politischen Einbindungen. Die
Umstände können es auch nahe legen, überhaupt nicht mehr auf die eigene
Vergangenheit zurückzublicken. Zu Recht hat der Datenschutzbeauftragte
des Landes darauf hingewiesen, es gäbe ein schutzwürdiges Interesse
daran, es niemanden wissen zu lassen, dass man in der DDR studiert habe
und es das Fach Kulturwissenschaft gewesen ist. Darum muss das Forum
der Kulturwissenschaftler in diesem Journal jenen vorbehalten bleiben,
die dieses ihr „schutzwürdiges Interesse“ zwar nicht geltend machen,
aber auch nicht jene Öffentlichkeit darstellen, vor der die Gesamtheit
der Absolventen zu schützen ist.
Im allgemein zugänglichen Teil werden darum auch nur die Auskünfte
veröffentlicht, deren Verfasser dem ausdrücklich zustimmen. Das gilt
ohne Frage für die Texte, die bereits veröffentlicht worden sind – noch
dazu mit ausdrücklichem Bezug auf die Studienzeit. So hat die
Humboldt-Universität vor einiger Zeit begonnen, in ihrer umfangreichen
Selbstdarstellung im Internet auch „Prominente Ehemalige“ vorzustellen.
Das sind insgesamt sieben berühmte Absolventen, davon haben zwei das
Diplom als Kulturwissenschaftler erworben. Wir übernehmen die
Interviews, die mit ihnen vor einigen Jahren geführt worden sind (und
die etwas ausführlicher auch an anderer Stelle publiziert worden sind).
Teil I
Prominente erinnern sich an das Studium der Kulturwissenschaft
Verantwortlich für die Rubrik „Prominente“ auf der Homepage der
Humboldt-Universität ist die Pressestelle. In ihrem Auftrag führten
Heike Zappe und Jörg Wagner die hier wiedergegebenen Gespräche, die
Fotos sind von Heike Zappe.
Es folgt hier zunächst die Präambel der Rubrik, dann die Gespräche
mit Jügen Kuttner und Wolfgang Thierse. Beide Interviews sind unter
www.hu-berlin.de/presse/ehemalige zu finden.
Prominente Ehemalige der Humboldt-Universität
Einige tausend Abiturienten entscheiden sich jährlich, eine
wissenschaftliche Ausbildung an der Humboldt-Universität anzutreten. Im
Wintersemester 2005/2006 studierten hier mehr als 39.000 junge Leute.
Dieser Lebensabschnitt ist so vielschichtig und spannend wie die
Lebensläufe der Betroffenen. Und viele der Ehemaligen dieser
Universität, die in ein paar Jahren ihr 200jähriges Jubiläum begeht,
sind heute keine Unbekannten im öffentlichen Leben. Die Palette der
prominenten ehemaligen Studenten und Absolventen ist beschaulich: Die
Politiker Wolfgang Thierse, Gregor Gysi, Regine Hildebrandt wie auch
die ehem. Präsidentin der Berliner Abgeordnetenhauses Hanna-Renate
Laurien, der Jurist Ernst Benda und der ehemalige Berliner
Bürgermeister Klaus Schütz haben hier studiert, ebenso der Kunstmäzen
Heinz Berggruen, der Theatermann Frank Castorf, der Radiomacher Jürgen
Kuttner, der Liedermacher und Dissident Wolf Biermann und die
Schauspielerin Christiane Paul.
Dass diese anerkannten und bekannten Persönlichkeiten einst an der
Humboldt-Universität zu Berlin bzw. der damaligen
Friedrich-Wilhelms-Universität immatrikuliert waren, ist den wenigsten
bekannt. Das soll sich ändern. Eine Porträtreihe beleuchtet und
hinterfragt in Wort und Bild diesen Lebensabschnitt der Einzelnen. Sie
offeriert Erlebnisse, Erfolge und Hindernisse in jener Zeit ebenso wie
gesellschaftliche Hintergründe und persönliche Befindlichkeiten.
Jürgen Kuttner
„Guck an, das kann ja toll werden"
Wie der Radiomacher Jürgen Kuttner seine Studienzeit heute sieht
Jürgen Kuttner, Jahrgang 1958, ist bekannt als Gründer der
Ost-TAZ und Moderator beim Jugendsender Fritz. Von 1980 bis 1985
studierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin Kulturwissenschaften
und promovierte zwei Jahre später zum Doktor der Philosophie. Wir
wollten von ihm wissen, wie sehr ihn dieses Studium prägte.
Jürgen Kuttner, Sie haben 1980 mit dem Studium der
Kulturwissenschaften begonnen und die Universität sieben Jahre später
als Dr. phil. verlassen. Was ist Ihre intensivste Erinnerung an die
Humboldt-Universität?
Da gibt es gar nicht so eine starke Erinnerung. Inzwischen ist das
alles weit weg gerückt und nimmt diese Architekturform an. Als ich
angefangen habe zu studieren, war das ein relativ normaler Ort. Drin
war es ja auch eher ein bisschen DDR-mäßig unordentlich und so ganz
unfeierlich.
Jürgen Kuttner im Interview
Haben Sie schnell festgestellt, ob das Studium die richtige Wahl war?
Es gab im ersten Semester eine sehr interessante Mischung aus
Vorlesung und Seminar. Die Professoren haben eine Stunde Vorlesung
gehalten und dann selber dazu das Seminar geführt. Das war insofern
interessant, als dass man sofort checken konnte, was das für Leute
sind. Und so richtig ist mir der Wolfgang Heise in Erinnerung
geblieben, der gleich anfing, Heiner Mü ller vorzulesen und darüber zu
diskutieren. Das war im Grunde das erste Mal, wo ich richtig stolz war:
Mensch, jetzt biste Student und kannst das alles studieren. Alles ist
offen und mal sehen, was da alles noch kommt und hoffentlich wird's
interessant. Der zweite Eindruck war eine Vorlesung zu Kulturtheorie
und Kulturgeschichte von Dietrich Mühlberg, die erstaunlich witzig und
entspannend war. Das sind meine ersten Bilder, die ich von der
Universität habe. Und das alles hat mich so mit Freude erfüllt, so guck
an, das kann ja toll werden, das kann ja interessant werden.
Was war der größte Unterschied zwischen Schule und Hochschule?
Na, der Punkt ist ja, dass man in der Schule nicht freiwillig ist.
Es gibt Pflichtveranstaltungen und ist mit Leuten zusammen, von denen
man nicht erwarten kann, dass die desselben Geistes sind. An der
Universität war das eine andere Situation. Man war auch schon
ansatzweise erwachsener, jedenfalls was die männlichen Studenten
betraf, weil die schon die Armee hinter sich hatten. Man bemerkte einen
eigentümlichen Abstand zum Großteil der Studentinnen, die direkt aus
der Schule kamen; die haben also Abi gemacht und gewissermaßen noch die
Stullentasche um den Hals saßen sie dann eine Woche später in der Uni
und haben dort ihre Pausenbrote ausgepackt. Diese Diskrepanz hat sich
dann mit der Zeit verschliffen, aber am Anfang war eben diese Naivität
da.
Sie arbeiteten im Anschluss an Ihren Grundwehrdienst zeitweise
als Grabungshelfer für das Märkische Museum, anschließend als
stellvertretender Klubleiter im Jugendklub des Kreiskulturhauses
Lichtenberg und als Hausmeister im Betriebskindergarten des VEB
Steremat Berlin.
Bei den Kulturwissenschaftlern waren relativ viel Leute, die
zwischen Abi und Studium schon mal einen Job hatten. Teilweise waren
die zu Beginn des Studiums 30 Jahre alt, was ja schon ein biblisches
Alter darstellt, wenn man selber erst 22 ist. Ich hatte in dieser Zeit
gejobbt, geheiratet und das erste Kind, da geht man auch anders an ein
Studium ran.
Sie haben an der Heinrich-Hertz-Oberschule das Abitur abgelegt
und hatten einen Studienplatz für Physik sicher. Warum sind Sie nicht
Physiker geworden?
Man muss fein unterscheiden: Ich wollte Physik studieren, aber nicht
unbedingt Physiker werden. Ich war auf dieser Mathe-Spezial-Schule, und
da lag es relativ nahe etwas Naturwissenschaftliches zu studieren, ich
hatte ein Faible für Mathe und Physik. Zweifel kamen mir, als mir ein
Verwandter, der im Erzgebirge in einer Besteckfirma arbeitete,
erzählte, sie kriegen alle fünf Jahre einen Physiker - weil Besteck ist
Metall, Metall ist Physik - einer entwickelt ein neues Produkt und der
letzte macht die Lohnabrechnung. Und da überlegte ich mir, ob ich
wirklich so Einstein'sche Qualitäten habe und mich jetzt gewissermaßen
allein durch Genialität aus Lohnabrechnungen irgendwie verabschieden
könnte. Wenn du erst Physiker bist, dann bist du gewissermaßen immer
Physiker. Und ich dachte, dann mach lieber irgend etwas anderes, etwas,
wo keiner genau weiß, was das ist.
Es hätte also auch Russisch sein können?
Nein, nein, Russisch nicht. Es war schon so ein spezifisches
Interesse für Popmusik und diesen Avantgarde-Kram da, an der Schule
hatte ich Theater gespielt, viel gelesen... Und mich hat auch
gewissermaßen immer das Nachdenken darüber interessiert, also nicht nur
die Genießerebene. Und so stand die Überlegung, studiere ich jetzt
Germanistik oder Theater- oder Musikwissenschaft. Und dann habe ich
mich auch wieder für das Unbestimmteste entschieden, dann mache ich
Kulturwissenschaft, das ist von allem etwas.
Sie hatten keine klaren Vorstellungen, wie das Leben nach der Uni aussehen sollte?
Im Gegenteil, mich hat fasziniert, dass so unklar ist, was man
hinterher wird. Das Spektrum reichte ja vom Leiter im
Eisenbahner-Klubhaus in Doberlug-Kirchhain bis zu Dramaturg an einem
Berliner Theater. Ich musste mir erst hinterher Gedanken machen. Und
habe schließlich mit größtem Interesse und mit einer Ernsthaftigkeit,
die mir heute selten geworden scheint, studiert.
Ein Kulturwissenschaftsstudium bekam man auch nicht ohne weiteres, auf einen Platz gab es sieben Bewerber.
Das war so ein bisschen das Risiko. Dadurch, dass ein Umtauschen
des Studienplatzes nicht möglich war, war klar: Ich gebe jetzt den
Physikstudienplatz weg und habe erst einmal nichts in der Hand. Ich bin
dann aber relativ selbstbewusst hingegangen zu den
Kulturwissenschaftlern. Es gab auch ein Eignungsgespräch. Man musste
dahin, den Scheitel noch mal nachziehen und dann wurde so eine Form von
Reflexionsfähigkeit oder Neugier getestet.
Wissen Sie, warum Sie zugelassen wurden?
Na, warum hätten Sie mich nicht nehmen sollen?
Es gab den Punkt "soziale Herkunft". Wer aus der Arbeiterklasse
stammte, hatte bessere Chancen. Ihr Vater war Materialkontrolleur bei
den Berliner Verkehrsbetrieben, Ihre Mutter arbeitete als
Hauptsachbearbeiterin bei der Sparkasse. Vorteile hatte auch, wer drei
Jahre zur Armee ging, wer in der SED war, in der FDJ, DSF usw..
Jürgen Kuttner und sein Studentenausweis
Das galt da für mich alles nicht. In die Partei bin ich erst später
eingetreten. Ich war nicht so privilegiert, dass es klar war, ich
kriege den Studienplatz. Aber ich hatte ein sehr gutes Abitur [alles
Einsen – d. Red.] und auch schon ein bisschen Ahnung und eine gewisse
Form von Eloquenz.
Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften waren die
Geisteswissenschaften in der DDR stärker ideologiedominiert. In welchem
gesellschaftlichen Klima fand Ihr Studium statt?
Diese extreme Konflikthaftigkeit in der DDR, die 1976 mit der
Biermann-Ausbürgerung kulminierte, war schon im Abklingen. Vieles war
nicht mehr so hart oder so erbarmungslos, wie es noch in den 70er
Jahren war. Im Politischen war das schon so eine Form von sich
dreinschicken ins Schicksal, Schaden minimieren, irgendwie machen
lassen. Leute in die Produktion schicken, das galt in den 80ern nicht
mehr. Im Wissenschaftsbereich Kulturwissenschaft herrschte ein sehr
offenes, tolerantes Klima. Und es resultierte aus einem bestimmten
Widerspruch. Das ganze Studium war natürlich grundsätzlich marxistisch
orientiert. Aber es war doch eine andere Form von wissenschaftlicher
oder philosophischer Ernsthaftigkeit zumindest unter den Professoren
oder in den Fächern, die man als Student ernst nehmen konnte. Und es
gab solche solitären Figuren, wie Wolfgang Heise, von dem Heiner Müller
sagte, er war der einzige Philosoph, den die DDR hatte, mit genug
Brüchen in seiner Biographie und der die Philosophie tatsächlich
transportieren konnte.
Aber die Sektion Ästhetik sollte um das Jahr 1987 herum wegen „ Gorbatschowismus“ abgewickelt werden ...
Ab 1985 spielte auch Gorbatschow eine enorme Rolle. Das, was man an
Reformen, Hoffnungen und Illusionen damit verband, war Tagesgespräch.
Also bezog man daraus auch Mut und Kraft, sich selber stärker zu
positionieren und Alarm zu machen.
Sie wurden aufgrund Ihrer hervorragenden Studienleistungen für
ein Forschungsstudium vorgeschlagen. Was war denn das Reizvolle daran?
Das klingt jetzt sehr anekdotisch, aber als das Studium drohte zu
Ende zu gehen, hatte ich keine Vorstellung, was ich machen soll und
wollte gern noch zwei Jahre an der Uni bleiben. Das erste starke Motiv
aber war zu lernen. Ich bin mit einer großen Neugier hingegangen und es
gab eine Menge nachzuholen - also alles das, was man humanistische
Bildung nennt. Meine Begegnung mit der Antike fand an der Universität
statt, in einem ehrwürdigen geschichtlichen Bereich. Deutsche
Archäologie und Philologie waren im 19. Jahrhundert weltweit führend.
Und das hatte noch eine atmosphärische Präsenz. Also das war für mich
wirklich - und hält bis heute an - das war so ein Blitz, so ein
Glücksmoment, so etwas Erhellendes, das hatte eine wirkliche Kraft.
Ihr Dissertationsthema lautet: „Begriff und Problem der ‚Masse'
in der ideologischen Auseinandersetzung auf kulturellem Gebiet". Hört
sich alles andere als avantgardistisch an.
Das Thema war in gewisser Weise eine Konsequenz aus der
Wissenschaftspolitik der DDR. Ich habe lange Zeit an einem Oberseminar
zu Peter Weiß' „Ästhetik des Widerstands" teilgenommen bei meinem
späteren Doktorvater Norbert Krenzlin. Das hatte etwas Subversives,
weil dort in der DDR notwenige, aber nicht geführte Diskussionen
stattfanden. Daraus hätte sich ein Thema für die Dissertation ergeben
sollen: der Avantgardebegriff bei Peter Weiß, bis hin zu
Avantgardemusik. Unglücklicherweise wurde der Professor
Sektionsdirektor und eingebunden in die so genannte Z-Planung: Im
Zentralkomitee der SED wurden Forschungsprojekte beschlossen. Die
hatten dann Gesetzeskraft.
Der Schwerpunkt hieß dann für die Sektion „Massenkultur“. Folglich
konnte er nicht mit seinen Forschungsstudenten Themen behandeln, die im
Grunde genommen der Gegenpol waren. Damit wurde es diese Thematik für
die Dissertation, die mich definitiv nicht interessierte. Ich habe mich
innerlich zwingen müssen. Und ich habe den ganzen Tag und jede Menge
Wein gebraucht, um mich dann abends um zehn hinzusetzen und noch eine
Seite in die Schreibmaschine zu hacken. Mir war auch klar, dass es eine
gewisse Enttäuschung am Institut geben wird, weil diese
Erwartungshaltung da war: Der hatte schon immer sehr gute Leistungen,
der kann das, der ist klug, der macht das ganz toll und wir sind
gespannt, was der da so schreibt. Und ich wusste, alle würden ein
Gesicht ziehen, wenn die das lesen. Und so war es dann auch. Aber es
war eine Form von Ehrlichkeit durchzuziehen.
Sie hätten sicher auch eine Assistentenstelle bekommen und die Universitätslaufbahn einschlagen können?
Ich wollte dann raus aus der Uni. Die Atmosphäre wurde mir zu eng
oder zu selbstbezüglich. Man kann nicht nur Theorie machen, wenn man
weiß, auf der Straße wird nach ganz anderen Gesetzen entschieden. Es
war mir zu wenig, es permanent immer nur besser zu wissen. Ich hab mich
an verschiedenen Stellen beworben und merkte, dass es auch schwierig
ist, seinem Bild von sich selbst treu zu bleiben. Ich hatte ein sehr
vielversprechendes Bewerbungsgespräch in der Akademie der Künste in der
Internationalen Abteilung. Man hätte in dem Job viel reisen können.
Dann hatte ich mir aber vorgestellt, wenn sie zu dir sagen: "Genosse,
wir schicken dich jetzt mal nach Bulgarien, zieh dich mal ordentlich
an", dann muss ich mir bestimmt die Haare abschneiden und einen Anzug
anziehen und das Parteiabzeichen anstecken. Und da wusste ich, das will
ich nicht, da werde ich jemand anderes. Ich wäre mir so korrupt
vorgekommen, so nach dem Motto: Wenn ich das mit mir machen lasse, dann
lass ich auch alles andere mit mir machen.
Im Verband Bildender Künstler der DDR konnten Sie dann so sein, wie Sie sein wollten?
Im Künstlerverband hat es mir richtig Spaß gemacht. 1987 hab ich da
angefangen. Ich bin aber auch mit dem Bewusstsein rein, hier muss ich
irgendwann wieder raus, sonst mach ich doch noch Funktionärskarriere,
auf die ich keine Lust hatte: Mann, nicht doof, sprachgewandt ... ich
war da stellvertretender Abteilungsleiter, meine Vorgesetzte war schon
ein bisschen älter, ich wusste, in fünf Jahren bin ich dann
Abteilungsleiter.
Dann kam die Wendezeit und Sie gründeten die Ost-TAZ. Es folgte
die Radiokarriere über Jugendradio DT 64, Rockradio B zu Fritz, wo man
Sie dienstags im „Sprechfunk“ hört. Parallel dazu machen Sie
kulturphilosophische Vorträge mit Videoschnipseln und O-Tönen, die
Reihe „Play loud" an der Volksbühne. Sie sind ausgebildet worden für
den Kulturbetrieb in der DDR, hat Sie das Studium an der
Humboldt-Universität für das nichtplanbare Leben in der BRD gut
vorbereitet?
Ich weiß nicht, ob eine Universität überhaupt auf das Leben
vorbereiten kann. Was ich dort gelernt habe, ist eine Form von
Problembewusstsein entwickelt zu haben und mit Konflikten kommunikativ
umzugehen - nicht in einem Beziehungsdenken, sondern schon in halbwegs
gesellschaftlichen Zusammenhängen. Vieles von dem, was ich jetzt beim
Radio oder am Theater mache, ist natürlich nicht durch das Studium
vorgeprägt.
Mir ist es gelungen, eine bestimmte Menge von Substanz, Wissen und
Erfahrung zu sammeln, aus denen aus man, je nach Befähigung,
unterschiedliche Sachen machen kann. Ich würde mir auch zutrauen, an
einem Theater als Dramaturg zu arbeiten, in den elektronischen Medien,
in der Presse. Es gibt vielleicht ein paar Sachen, die in meiner
Studienrichtung einfach unterbelichtet waren aber da war immer ein
Unterbau, auf den ich mich beziehen konnte, ohne die handwerklichen
Momente zu beherrschen.
Wenn man wissenschaftlich arbeiten oder studieren oder lesen gelernt
hat, dann ist man sowieso darauf angewiesen, dass man selber liest, das
kann einem keine Universität abnehmen. Wenn ich heute noch mal
studieren wollte, würde ich danach gucken, ob ich dabei zu lernen
lerne. Von daher habe ich keine Defizite, was das Studium an der
Humboldt-Uni angeht, ich fühle mich schon sehr gut ausgebildet. Noch
immer.
Das Interview entstand im März 2002. Es wurde im Rahmen des
Projekts "Prominente Ehemalige der Humboldt-Universität zu Berlin"
geführt. In dieser (gekürzten) Print-Fassung ist es erschienen in der
Tagesspiegel-Beilage der Humboldt-Universität am 12. 04 .2002. Es liegt
ungekürzt als Videomittschnitt vor.
Wolfgang Thierse
"Es war schon eine turbulente Zeit"
Wolfgang Thierse ist Absolvent der Humboldt-Universität zu Berlin und erinnert sich mit gemischten Gefühlen
Herr Bundestagspräsident, welche Erinnerung haben Sie an Ihre Studienzeit an der Berliner Humboldt-Universität?
Ich war ausgesprochen gerne Student. Und auch immer ein wenig
stolz, dass ich an einer der berühmtesten deutschen Universitäten
studieren konnte. Es war nicht mehr die berühmte alte
Friedrich-Wilhelms-Universität, sondern eine Universität unter den
Bedingungen der DDR, aber ich hatte schon ein Bewusstsein davon, welche
große Tradition dieses Haus hatte, das ich jeden Tag betrat.
Sie sind in Breslau geboren und durch kriegsbedingte Umsiedlung
im Thüringischen aufgewachsen. Ihr Vater war Rechtsanwalt, die Mutter
Erzieherin. War der Weg zu einem Studium in diesem Elternhaus
vorbestimmt?
Da meine Eltern studiert hatten, lag es nahe, dass sich mein Bruder
und ich auch in diese Richtung bewegten. 1962, im Jahr nach dem
Mauerbau, habe ich Abitur gemacht. Zum Studium wurde ich zuerst nicht
zugelassen. Ich hatte die falsche soziale Herkunft, kam nicht aus der
Arbeiterklasse. Zweitens hatte die DDR damals wieder eine ihrer
kleineren "Bildungsrevolutionen" ausgerufen: die Forderung, dass alle,
die studieren wollen, erst einmal vorher einen ordentlichen Beruf
erlernen, sich in der Produktion mehr oder minder gut bewähren. Von
meiner Schulklasse wurden zwei zum Studium zugelassen. Beides Mädchen,
die ein Lehrerstudium aufnahmen.
Wolfgang Thierse im Interview
Demnach haben Sie zunächst einen so genannten ordentlichen Beruf erlernt?
Ich erlernte in Weimar das edle Handwerk des Schriftsetzers. Meine
zwei Jahre als Lehrling und nach der Facharbeiterprüfung waren ganz
sinnvoll. In Weimar bin ich viel ins Theater und in die Museen gegangen
und habe mich im besten Sinne auf's Leben und auf's Studium vorbereiten
können. Dann bewarb ich mich in Berlin für die Fächer
Kulturwissenschaft und Germanistik.
Resultierte der Studienwunsch aus den Erfahrungen dieser Zeit?
Ursprünglich wollte ich wie mein Vater Rechtsanwalt werden. Aber
ich wollte zu DDR-Zeiten nicht Jura studieren, um dann als Staatsanwalt
oder Richter im engsten Sinne des Wortes Staatsdiener zu werden. Eine
Zeitlang hatte die SED gemeint, man brauche keine Rechtsanwälte, denn
der sozialistische Staat sei per se gerecht. Also habe ich meinen
anderen Interessen gelauscht. Später in einem Verlag oder in einem
Theater zu arbeiten, reizte mich. Kulturwissenschaft als
Studiendisziplin war damals ein ganz neues Fach. In der Kombination mit
dem zweiten Fach Germanistik war das dann die Entscheidung für Berlin.
Erinnern Sie sich an Ihre Aufnahmeprüfung?
Ja, die Germanisten fragten mich überraschend nach einer
Interpretation des Goetheschen Gedichtes "Willkommen und Abschied".
Aber ich wollte das doch erst studieren, um Gedichte anständig
interpretieren zu können. Im Fach Kulturwissenschaft wurde die
grundsätzliche Frage gestellt, was das Ziel des Sozialismus sei. Meine
Antwort muss sie verblüfft haben; ich glaube sogar, sie ist bis heute
richtig: eine Gesellschaft herzustellen, in der soziale Gleichheit
herrscht, damit natürliche Ungleichheit zu Geltung kommen kann.
Es war die Zeit, als Walter Ulbricht die Losung ausrief, die
Jugend müsse vorbereitet werden auf die spätere Zeit. Es gab relativ
viel Freiheit. Die DEFA drehte noch ihre kritischen Filme, bevor das
"Kahlschlagplenum" 1965 begann. Wie haben Sie diesen Umbruch bis hin
zum VII. Parteitag, der Hochschulreform 1968, Prag 1968 für sich im
Studium reflektieren können?
Wie soll ich das nennen? Als Anflüge von - freundlich ausgedrückt -
fast nationalem Selbstbewusstsein, - unfreundlich ausgedrückt - von ein
bisschen Größenwahnsinn. Nach dem Bau der Mauer gab es eine innere
"Festigung" der DDR, schließlich konnte keiner mehr abhauen. Da gab
Ulbricht in fast maoistischer Geste das Motto aus: "Jetzt muss der
große wirtschaftliche Fortschritt kommen - Überholen, ohne
einzuholen!". Das neue ökonomische System der Planung und Leitung
reformierte in gewisser Weise eine starre und ziemlich unsinnige
Planwirtschaft. Dasselbe galt in der Kulturpolitik: Jetzt, da niemand
mehr weg könne, müsste mehr möglich sein. So verstanden das jedenfalls
viele Kulturschaffende, viele Literaten und Künstler. Diese Phase war
allerdings sehr kurz. Das berühmt-berüchtigte IX. Plenum des ZK der SED
im Dezember 1965 veranstaltete ein kulturpolitisches Scherbengericht,
dessen Folge das Verbot vieler Filme und mancherlei Manuskripte war.
Die öffentliche Kritik und Aburteilung von Wolf Biermann passte in
diese Jahre. Dass uns das alles interessierte und bewegte als Studenten
der Kulturwissenschaft, war klar. Das wurde heftig diskutiert.
Aus dem "Studienbuch"
Auch in Seminaren?
Weniger in den Seminaren, eher wenn wir uns abends zusammengesetzt
haben. Der Fall Biermann war Gegenstand solcher studentischen Debatten
bis hin zu unangenehmen Konsequenzen. So drohte einem Kommilitonen, der
sich besonders heftig für Biermann eingesetzt hatte, die
Exmatrikulation. Die anderen stellten sich dann schützend vor ihn und
gaben wunderbar politisch lobende Stellungnahmen ab.
Das Fach Kulturwissenschaft / Kulturtheorie war auch ein Phänomen
einer bestimmten Art des Aufbruchs. Die marxistische Theorie - der
Historische und Dialektische Materialismus - verengte sich auf
Gesellschaftstheorie und wissenschaftlichen Kommunismus. Eine ganz
wichtige Dimension fehlte: der Mensch als Individuum und die
Bedingungen für seine Entwicklung. Die Einrichtung dieses Faches war
eine Antwort auf diesen Mangel. Kulturtheorie als die Disziplin, die
nach den Entwicklungsbedingungen des Einzelnen in einer sozialistischen
Gesellschaft fragt. Das war ein Moment einer bestimmten Aufbruchsphase
innerhalb der marxistischen Gesellschaftswissenschaft.
Doch diese Phase hielt nur kurz an ...
Knapp vier Jahre danach, 1968, waren schon viele Hoffnungen auf
eine andere Art sozialistischer Gesellschaft gescheitert - eine mit
mehr Freiheit für die Einzelnen, mit mehr wissenschaftlicher und
kultureller Freiheit. Ich erinnere mich sehr lebendig an unerhörte
Disziplinierungsaktionen, gerade an den Universitäten, gerade gegenüber
den Wissenschaftlern, den Intellektuellen in der DDR. Alle sollten
Zustimmungs- und Jubelerklärungen zum Einmarsch in die Tschechoslowakei
abliefern. Wer das nicht tat, bekam ein Parteiverfahren oder ihm drohte
die Exmatrikulation.
Gab es so etwas wie eine studentische Opposition im Verborgenen?
Das Wort Opposition ist so groß. Es hat vielerlei Aktivitäten
gegeben in diesem halben Jahr. Im August selber gab es Protestaktionen
gegen den Einmarsch: Flugblätter, interne Aufrufe. Manche haben die
Folgen zu tragen gehabt, sie wurden exmatrikuliert oder für ein oder
zwei Jahre "in die Produktion" geschickt, um sich zu "bewähren". Das
war schon eine turbulente Zeit. Eine Phase jäh aufflackernder Hoffnung,
ebenso jäh abstürzender Hoffnung und riesiger Enttäuschung.
Was haben Sie von den Studentenrevolten jenseits der Mauer mitbekommen?
Ziemlich viel. Zum einen über das Fernsehen, auch über die
christlichen Studentengemeinden gab es gute Kontakte zu Westberliner
Studenten, die zu uns kamen und während sie nur herumschwadronierten.
berichteten. Manche von denen, die mich seit damals kennen, erinnern
mich noch heute daran, dass ich ihnen in Kenntnis von Marx und Lenin
deutlich überlegen war. Ich hatte das alles wirklich gelesen.
Wie muss man sich den damaligen Studentenalltag vorstellen?
Das Studium war gut organisiert, im Vergleich zu westlichen
Universitäten stark verschult. Unser Jahrgang war in zwei kleine
Seminargruppen von etwa 15 Leuten eingeteilt. Es war klar festgelegt,
welche Lehrveranstaltungen obligatorisch und welche fakultativ waren.
Daran hat man sich im Wesentlichen gehalten. Nach jedem Semester oder
am Ende jeden Studienjahres gab es Prüfungen. Also musste man sich
schon ein bisschen dahinter klemmen.
Als Germanist hat man unerhört viel gelesen, und das mit
Vergnügen. In den Seminaren, besonders zur Ästhetik und zur
Philosophiegeschichte wurde viel über Texte diskutiert. Andererseits
gab es entsetzlich langweilige Vorlesungen über dialektischen
Materialismus; man musste sich obligatorisch die Geschichte der
Arbeiterbewegung anhören, die Einführung in den Wissenschaftlichen
Kommunismus und die Politische Ökonomie des Kapitalismus. Das war
dieser unerträgliche Kathedermarxismus, wie man ihn vorsichtig nennt -
doktrinär und unfrei bis zum Erbrechen.
Gab es unter den Dozenten Persönlichkeiten, die Sie geprägt haben?
Der einzig wirklich faszinierende Lehrer, den ich kennengelernt
habe, war Wolfgang Heise - selbst überzeugter Marxist jüdischer
Herkunft, der im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um Robert
Havemann in die Kritik der SED-Führung geraten war. Er hielt
philosophie- und ästhetikgeschichtliche Vorlesungen. Das war spannend.
Es regte zum Nachdenken und zum Widerspruch an.
Man hat in der DDR unter Widersprüchen studiert. Man hat etwas
gelernt und es gab unsäglich Vieles, mit dem man nie wirklich etwas
anfangen konnte.
Wolfgang Thierse im Interview
Wenn Sie rückblickend die Qualität Ihres Studiums beurteilen,
sind Sie das, was Sie heute sind, mit Hilfe dieses Studiums geworden?
Bei den Germanisten habe ich gelernt, am Text zu arbeiten, Gedichte
und Romane zu interpretieren, also Texte zu verstehen. Außerdem musste
ich lernen, mit Widersprüchen zu leben, auch mit den Widersprüchen
meiner Existenz. Aber ich glaube nicht, dass ich viel Handwerkszeug für
den späteren Beruf erworben habe. Dazu war dieses Studium der
Kulturwissenschaft ideologisch zu überfrachtet.
Dennoch haben Sie sich für die Laufbahn eines Forschungsstudenten entschieden …
Ich wollte am Ende des Studiums nicht in ein Kulturhaus oder in die
kulturpolitische Praxis gehen. Dazu war ich zu sehr an Theorie und
Wissenschaft interessiert. Und natürlich war ich gern an der
Universität, erst als Forschungsstudent, dann als Assistent - das hat
mir Spaß gemacht. Ich habe Studenten unterrichtet. Kommunikation ist
immer noch das Vergnüglichste - auch in meinem jetzigen Beruf.
Was war das Spezialgebiet?
Ich bin Forschungsstudent im Bereich Ästhetik geworden und habe
mich mit neueren Entwicklungen der Semiotik und mit Wissenschaftskritik
an der Entwicklung der Literaturwissenschaft befasst. Besonders
wissenschaftsmethodische und -kritische Fragen haben mich sehr
beschäftigt.
Hatten Sie seinerzeit Schwierigkeiten aufgrund Ihrer Religiosität?
Dass ich Christ bin, hat während des Studiums immer nur eine
untergeordnete Rolle gespielt - obwohl ich in der Katholischen
Studentengemeinde Berlins und der DDR sehr aktiv war.
In der Einschätzung zur Zulassung für das Forschungsstudium
findet sich in den Akten der Hinweis: "Die religiöse Bindung hat ihn,
wie sein Auftreten während des Studiums zeigt, nicht daran hindern
können, und wird es auch künftig nicht tun, gesellschaftlich aktiv und
politisch progressiv in unserer Gesellschaft tätig zu sein." Ist das
Wissenschaftslyrik, um Sie durchzuboxen?
Solche Texte kann man nur verstehen, wenn man weiß, unter welchen
Voraussetzungen sie geschrieben wurden. Da ist einer, von dem das
Institut sagt: ein intelligenter Junge, der hat was drauf, es wäre doch
gut, wenn der bei uns bleiben könnte. Aber nun hat er einen doppelten
Makel: Er ist nicht in der SED. Und noch schlimmer, er ist Christ -
oder wie es hieß: "religiös gebunden". Also muss man nun, um diesen
doppelten Makel zu überkleistern, besonders dick auftragen: Was für ein
überzeugter Sozialist er ist. Das hat noch gar nichts mit Anpassung zu
tun. Wie 99,99 Prozent der DDR-Bürger war auch ich kein Revolutionär.
Denn wir haben uns weder subjektiv noch objektiv in der Lage gesehen,
dieses System umzustürzen.
Haben Sie das Forschungsstudium beenden können?
Ja, aber ich habe meine Doktorarbeit nicht beendet. Ich wurde als
wissenschaftlicher Assistent an der Humboldt-Uni eingestellt, weil die
Kollegen meinten, auch ohne beendete Doktorarbeit sei ich so gut, dass
ich an der Hochschule bleiben sollte.
Weshalb hatten Sie die Promotion nicht abgeschlossen?
Warum wird man mit etwas nicht fertig? Weil man mit den
Widersprüchen, mit denen man zu tun hatte, nicht zu Rande kommt. In
meinem Falle waren das auch die verordneten marxistischen Vorzeichen.
Welchen Rat würden Sie heutigen Studenten geben?
Das klingt so altväterlich. Während des Studiums muss man zwei
Dinge tun: sich selbstverständlich auf den Hosenboden setzen, sonst
lernt man nichts. Zugleich muss man sich die Freiheit nehmen, sich
nicht auf das eigene Fach einschränken zu lassen. Man muss der Gefahr
begegnen, borniert zu werden, stattdessen sollte man sich für andere
Fragen und Fächer interessieren sowie für das, was man studentisches
und universitäres Leben im weiten Sinne des Wortes nennt.
Ich halte nichts von Studenten, die ganz stur, mit engem Blick nur das
studieren, was sie ganz schnell zum Abschluss bringt. Allerdings
schätze ich auch diejenigen wenig, die vor der Verpflichtung zum Fleiß
davon laufen, indem sie sich in die Abenteuer der studentischen
Freiheit stürzen. Man muss beides miteinander verbinden. Und ich
wünsche mir, dass Studenten heute die politische und akademische
Freiheit wirklich nutzen, die sie haben und die ich leider nicht hatte.
Das Interview entstand im September 2004. Es wurde im Rahmen des
Projekts "Prominente Ehemalige der Humboldt-Universität zu Berlin"
geführt. In dieser Print-Fassung ist es erschienen in der
Tagesspiegel-Beilage der Humboldt-Universität am 22. 10. 2004.
Teil II
Studium der Kulturwissenschaft in der schönen Literatur
Aus Texten von Maxie Wander und Alexander Osang
… dieses Studium wurde eine wunderbare Geschichte
Aus: Maxie Wander, Guten Morgen, du Schöne. Buchverlag Der Morgen, Berlin 1977.
In diesem Buch erzählen Frauen ihr Leben. Hier eine Studentin, die
1975 - zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Maxie Wander - 41 Jahre alt war,
geschieden, Mutter von zwei Kindern und Fernstudentin der
Kulturwissenschaft (Diplom 1978). Nach dem Studium arbeitete sie als
Drehbuchautorin und Dramaturgin für das Dokfilmstudio der DEFA.
„So wurde ich Vertrauensmann, weil ich ein sozial denkender Mensch
bin, ne? Wenn einer krank wurde, bin ich hingesaust und dachte: Der muß
ja gesund werden, wenn Du ihm Blumen bringst. Und dann kamen die
Frauenförderungspläne. Mein Chef hatte eigentlich keine Ambitionen, der
sagte, das wäre alles Quatsch, man sollte sich am Arbeitsplatz
qualifizieren. Aber ein anderer meinte, warum denn nicht, sie fragt
doch dauernd, und wir haben bloß drei Frauen in der Abteilung. Um
Gottes willen, rief mein Chef, in ihrem Alter, hat sie denn überhaupt
Abitur? Nee, sage ich. Na also, schreit mein Chef, ist doch alles
Quatsch. Der andere blieb aber dran, und ich sagte wie immer: Gut,
mache ich. Ich wußte ja gar nicht, was auf mich zukam.
Bin also zur Volkshochschule gewandert, und dort traf ich eine
Frau! Wir sprachen eine Stunde zusammen, dann sagte sie: Es ist
erstaunlich, was Sie alles nicht wissen. Die Aufnahmeprüfung für die
elfte Klasse schaffen Sie nie. Wir machen das anders. Ich gebe Ihnen
eine Stunde in den Deutschfächern und viele Hausaufgaben... Abends habe
ich zu meinem Mann gesagt: Ich habe keine Zeit mehr, ich muß lesen. Da
hat mein Mann nicht gefragt, was ich lese und warum ich lese, er hat
nur dauernd gewimmert, daß kein Knopf am Hemd war. Und hat ferngesehen.
Und ich saß in der Küche und hab studiert... Mir ging eine Welt auf.
Aber mein Mann hat immerfort nur Geschichten erzählt, wie ein Studium
jede Ehe zum Platzen bringt...
Ich habe geackert und geackert und hab mich gezankt zu Hause... ich
war so wahnsinnig wütend auf meinen Mann, weil er nie fragte: Kann ich
im Haushalt was machen, kann ich Schularbeiten bei den Kindern
nachsehen? Nichts, gar nichts. Hat mir nur immer gesagt: Jetzt endlich
siehst du, was du alles nicht weißt. Und hat Klavier gespielt. Hab ich
mir oft gedacht: Du Scheißkerl! Kurz und gut, ich habe nach einem Jahr
das Deutsch-Abitur mit Eins gemacht...Geschichte haben wir ´ne Zwei
gemacht. Und Staatsbürgerkunde... also da wars ´ne Drei, und da war ich
noch recht zufrieden.
Aber was denkst du, zum Studium kam ich nicht! Es kam nur ein
Brief: Liebe Frau S. Ihr Aufnahmegespräch und Ihre schriftlichen
Arbeiten haben leider nicht den Erfolg gebracht, den wir erwarteten.
Ihr Alter ist eigentlich auch... Na, schönen Dank! Nun hast du endlich
den Beweis, du bist halt doof. Zu... den Leuten habe ich gesagt: Ich
krieg das nicht mehr unter einen Hut, ich hab vom Studium Abstand
genommen...
Unsere Scheidung war kurz. Die erste Verhandlung dauerte eine
Viertelstunde. Am schlimmsten traf mich, daß er in seiner Begründung
geschrieben hatte, ich könnte ihm geistig nicht mehr folgen, er hätte
mittlerweile eine studierte Frau kennengelernt, die ihm neue Horizonte
eröffnet hat...
Paß auf, der Mann war weg, und ein paar Tage später bekam ich die
Zuschrift: Sie sind immatrikuliert. Ich hatte mich noch einmal beworben
und noch einmal alle Papiere fertiggemacht, es war ein absoluter
Zufall. Aber ich dachte: Du hast versagt auf allen Gebieten, du
schaffst das Studium nie...
Da passierte etwas Irrsinniges: Jeder riet mir ab. Mein Chef war
besonders süß, der sagte: Ja, was machen wir denn da, gehen wir tanzen?
Nee, sage ich, wir gehen studieren. Was, sagt mein Chef, in Ihrem
Alter? Sie sollten sich noch ein bißchen amüsieren...
Kurz und gut, dieses Studium wurde eine wunderbare Geschichte.
Jetzt geht es dem Ende zu, und ich habe einen Horror vor der Zeit
danach. Dieser Austausch mit anderen Menschen, der bleibt im Beruf ja
nicht erhalten.“ (S. 179 ff.)
Schneider hatte die rote Scheiße nicht mehr ertragen
Aus: Alexander Osang: die nachrichten (Frankfurt / Main 2000).
„Schneider und Landers hatten in Berlin Kulturwissenschaften
studiert. Schneider kannte jeden Song von Deep Purple und jeden von
Rainbow. In der siebten Klasse hatte er in den Bogen für die
Berufswünsche geschrieben: Richie Blackmoore. Landers hatte dreimal in
der Woche den Discjockey in einem Berliner Jugendklub gemacht.
Weitergehende kulturelle Interessen hatten sie nicht, soweit er sich
erinnerte. Landers hatte den Studienplatz nur bekommen, weil seine
Mutter an der Sektion Kulturwissenschaften arbeitete. Als Sekretärin
zwar, aber wer das nicht wusste, hätte sie auch für eine Dozentin
halten können. Wie Schneider mit seinen politischen Ansichten an den
begehrten Studienplatz gelangt war, konnte Landers sich heute noch
nicht erklären. Es war egal. Sie hatten die Sektion
Kulturwissenschaften beide nach dem ersten Studienjahr verlassen.
Landers waren die Wichtigtuer in seiner Seminargruppe auf die
Nerven gegangen, ihre Konspekte und bunten Unterstreichungen in den
Seminarvorbereitungen, ihre besorgten Blicke, wenn er wieder mal keine
Antwort wusste. Vor allem aber hatte er nicht die geringste Ahnung
gehabt, was er nach den fünf Jahren Studium lieber machen würde, als
Platten aufzulegen. Schneider hatte die rote Scheiße nicht mehr
ertragen, wie er es nannte. Er war in seinen Beruf als Drucker bei der
Sächsischen Zeitung in Dresden zurückgekehrt und schrieb gelegentlich
unter Pseudonym Kurzrezensionen von Heavy-Metal-Konzerten.“ (S. 101)
„Landers erzählte von seinem Leben in Ostberlin, von Weißensee,
seinen Eltern, seiner Schule, der Humboldt-Universität, der Sektion
Kulturwissenschaften, von dem Gerücht, dass in jeder der Seminargruppen
zwei Stasispitzel untergebracht worden waren... Landers erzählte von
seinem Armeedienst in Neubrandenburg, er war Kraftfahrer im
Regimentsstab gewesen, er erzählte von der Diskothek, auf der er
Deshalv spill mer he von BAB gespielt hatte. Von dem
Klubleitungsmitglied, das ihn bei der FDJ-Kreisleitung angeschwärzt
hatte.“ (S. 273)
„Landers... fand ein paar Aufsätze und Bewerbungen.
‚Hör dir das mal an‘, sagte er. ‚Damit habe ich mich für
Kulturwissenschaften beworben. „In der entwickelten sozialistischen
Gesellschaft nimmt die Kultur einen immer breiteren Raum im Leben der
Bürger ein. Nicht umsonst spricht die Hauptaufgabe von der immer
besseren Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse. Für
den zweiten Teil dieser Aufgabe wäre ich gern mitverantwortlich. Bücher
und Konzerte begleiten mich durch mein Leben, seit ich denken kann...
blablabla... Ich würde später gern an einer Publikation mitwirken, als
Lehrer arbeiten oder in einer der vielen Massenorganisationen, deren
Anliegen es ist, die kulturellen Bedürfnisse der DDR-Bürger besser zu
befriedigen... blablabla.“ Damit haben die mich genommen.‘
‚Warum nicht. Es war das, was sie hören wollten.‘“ (S. 372)
„Landers raschelte sich durch das Papier, wertloses Zeug. Es sagte
ihm alles nichts mehr. Die Studienhefter waren dünn, in manchen
klemmten nur zwei, drei Blätter. Kulturgeschichte. Literaturgeschichte.
Dialektischer und historischer Materialismus. Politische Ökonomie des
Kapitalismus. Landers hatte kaum Erinnerungen an seine zwei Semester
Kulturwissenschaften.“ (S. 373)
Teil III
Wie sich ein Germanist aus Hamburg erinnert
Das Fach mußte „erfunden“ werden
Aufschlussreich und anregend ist, was der Germanist Böhme
erinnert, der 1993 den entscheidenden kulturwissenschaftlichen
Lehrstuhl in Berlin besetzt hat. Dazu hier eine Passage aus dem Vorwort
zu dem von Hartmut Böhme, Peter Matussek und Lothar Müller
herausgegebenen Buch „Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann,
was sie will“, Reinbek bei Hamburg 2000.
Wer studieren will, erwartet zu Recht, an den Universitäten auf
theoretisch gut geordnete Fächer, gesicherte Traditionen, klare
Fragestellungen, bewährte Methoden und erprobte Studiengänge zu stoßen.
Ob Germanistik, Philosophie, Slawistik, Kunstgeschichte oder Soziologie
– je näher eine universitäre Disziplin an einem Schulfach liegt, desto
zutreffender werden diese Erwartungen sein. Schon die Schullehrer der
Studierwilligen studierten das ins Auge gefaßte Fach, und zwar wiederum
bei Universitätslehrern, die ebendieses Fach auch schon studiert hatten
– und so weiter zurück, womöglich bis tief ins 19. Jahrhundert. All
dies trifft auf die Kulturwissenschaft nicht zu. Es gibt sie als
Studienfach, sieht man einmal von zwei weisungsgebundenen
DDR-Instituten ab, erst seit Mitte der achtziger Jahre – und auch nur
an einigen Universitäten. Keiner der derzeitigen Professoren der
Kulturwissenschaft konnte diese also studiert haben. Das Fach mußte
„erfunden“ werden, allerdings nicht im luftleeren Raum: Es gab in der
Geschichte der Geisteswissenschaften vielfache Ansätze, die auf eine
Kulturwissenschaft zielten. Und es bestand in den achtziger Jahren ein
universitärer und bildungspolitischer Bedarf, dieses Fach und die mit
ihm verbundenen Theorien, Fragestellungen und Perspektiven an den
deutschen Universitäten zu etablieren. Internationale Einflüsse, vor
allem aus dem angloamerikanischen und französischen Bereich,
begünstigten den Neuansatz.
Wer Kulturwissenschaft studieren will, sollte diese Hintergründe
kennen. Auch von ihnen handelt dieses Buch. Es wird deutlich machen,
daß dieses Fach ein anspruchsvolles Abenteuer darstellt, dessen Zukunft
in der akademischen Landschaft nicht gesichert ist; daß hier ein
Ausbildungsfeld betreten wird, das von den Studierenden Neugier und
Gestaltungswillen, Lust auf theoretisches Denken und historisches
Forschen, Experimentierfreude im Umgang mit neuen Medien und geduldiges
Versenken in alte Künste, teilnehmendes Interesse an großen
Zusammenhängen wie an detaillierten Feinheiten des historischen
Prozesses, Motivation für kulturelle Interventionen und soziale
Phantasie schon während des Studiums erwartet. Das Fach ist neu – also
ist es offen für unkonventionelle Aktivitäten; es ist relativ
unbestimmt – also bietet es Raum für eigenes Gestalten; es ist
mannigfach verzweigt – also kann man sehr Verschiedenes lernen, neue
Wege ausprobieren, sich große Überblicke verschaffen oder auch in eine
der Verästelungen vertiefen.
All dies eröffnet für die Studierenden Chancen, die in dieser Fülle
kaum ein anderes Fach bieten kann. Doch zugleich haben diese Chancen
der neuen Disziplin ihre Kehrseiten: Die Vielfalt ist verwirrend, das
Fach hat an jeder Universität einen anderen Zuschnitt, die
Gegenstandsfelder sind überwältigend weit, die Theorien und Methoden
sind unübersichtlich, kompliziert und widersprüchlich; man wird
zwischen produktivem Dilettantismus und Expertenwissen hin und her
geworfen, man findet keinen festen Boden, man vermißt Perspektive und
Orientierung.“
(S. 7 – 8)
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