Thema | Kulturation 2/2003 | Deutsche Kulturgeschichte nach 1945 / Zeitgeschichte | Svea Bräunert | Alles nur Klischee?! Inszenierungen auf dem Karneval der Nationen (1973) und dem Karneval der Kulturen (2003).
| Inszenierungen von Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit und Ethnizität auf dem Karneval der Nationen (1973) und dem Karneval der Kulturen (2003).
1. Einleitung
Karneval der Nationen und Karneval der Kulturen. 1973 und
2003. Berlin (Ost) und Berlin (West). Zweimal Karneval und zweimal
implizite und explizite Bildpolitik. Bildpolitik gerade auch in Bezug
auf die Inszenierungen von Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit und
Ethnizität. Doch was für Bilder werden in diesen beiden Veranstaltungen
genau behandelt? Sind sie alle nur Klischees? Reproduzieren sie also
gängige Vorstellungen? Oder nutzen sie die Plattform des Karnevals als
Möglichkeit für das ‚Andere‘ und die Entgrenzung des Alltäglichen?
Es ist der 3. August 1973 in Berlin (Ost). An diesem 7.Tag der X.
Weltfestspiele stehen die Menschenmassen seit dem Nachmittag rund um
den Friedrichshain Spalier, um den Karneval der Nationen, auch als Internationaler Karneval der Artistik und des Humors oder schlicht als Festivalkarneval
bezeichnet, zu sehen. 250.000 Zuschauerinnen und Zuschauer kommen
allein zu dieser Veranstaltung und machen den Festivalkarneval damit zu
einem unerwarteten Höhepunkt der Weltfestspiele. Am Rande des Zuges
werden sie nicht nur mit zahlreichen Verkaufsständen- das Angebot
reicht von Faßbrause bis zu Luftschlangen- sondern auch mit Live Musik
und Kleinkunst auf zahlreichen Bühnen unterhalten. Gegen 18:00 Uhr
bewegen sich die ersten Festwagen mit Themen wie „Blumen für die Jugend
der Welt“ oder „Jugend und Lebensfreude“ die Mollstraße in Richtung
Leninplatz entlang, um 3 Stunden später zu enden. Doch wer noch nicht
genug gefeiert hat, muß nicht nach Hause gehen. Bühnen im
Friedrichshain laden die Masse zum Internationalen Fest der Lieder, Tänze und Volksbräuche
( für genauere Informationen vgl. SAPMO-BArch, DY/24/7179) ein. Eine
kleine exklusive Minderheit begibt sich zur Abschlußveranstaltung des
Karnevals ins Friesenstadion, wo sich ein Zirkus zu Wasser, zu Lande und in der Luft (für genauere Informationen vgl. SAPMO-Barch DY/24/7212) darbietet. (vgl. SAPMO-Barch DY/24/7212)
30 Jahre später. Pfingstwochenende 2003 in Kreuzberg und Neukölln, Berlin (West). Der 8. Karneval der Kulturen, organisiert von der Werkstatt der Kulturen,
hat sich vom Hermannplatz aus auf den Weg in Richtung Yorckstraße
gemacht. 4.200 Akteure aus mehr als 80 Ländern in 105 Formationen
werden von einer halben Million Zuschauenden begeistert in Empfang
genommen. (vgl. Programmheft 2003) Einige von ihnen sind schon den
dritten Tag dabei. Sie haben sich bereits am Freitag und Samstag auf
dem Straßenfest am Blücherplatz bei Caipirinha und Live Musik auf 4
Bühnen vergnügt. Auf den Caipirinha muß auch heute nicht verzichtet
werden. Gibt es ihn doch neben Bratwurst an jeder zweiten Straßenecke
entlang der Zuges.
Während der Karneval der Kulturen das Ziel verfolgt, das multiethnische und multikulturelle Berlin auf die Straße zu bringen (vgl. Homepage), steht der Karneval der Nationen
fest in der Tradition der Weltfestspiele. Hier sollen Internationalität
und Weltoffenheit der Jugend propagiert werden. Zugleich heißt es in
den Informationen des Programmbüros: „In diesem Karneval wird die
Jugend der Welt den Imperialismus und seine Erscheinungen verspotten.“
(SAPMO-Barch DY/24/7184) Die ‚Selbstbeschreibung‘ des Karnevals der Kulturen liest sich hingegen folgender Maßen:
Der Karneval der Kulturen in Berlin ist offen für alle; er wird von
Menschen jeglicher kultureller Prägung mitgetragen als Bestandteil
einer urbanen, pluralen Kultur, der sie sich zugehörig fühlen. Er wird
als Plattform genutzt, um selbstbewußt die eigene kulturelle Identität
zum Ausdruck zu bringen. (Homepage)
Die Form des Karnevals bietet diesen heterogenen Vorstellungen von
Entgrenzung eine ideale Plattform. Ist dem Spiel mit der Maske und der
Maskerade doch traditionell die Möglichkeit der Umkehrung der
Verhältnisse eingeschrieben. Eine tatsächliche Umkehrung der
Verhältnisse und Inszenierungen einer anderen Welt müßte sich somit
auch in den Bildern des Karnevals wiederfinden lassen. Als zentrale
sinn- und identitätsstiftende Kategorien von Welt und
gesellschaftlichem Leben, sollen im Folgenden die drei Komplexe
Geschlechtlichkeit, Körperlichkeit und Ethnizität betrachtet werden.
„Denn die Bedeutungen von Rasse, Ethnie, Fremdheit usw. sind keine natürlichen Gegebenheiten,
die den Menschen auf den Leib geschrieben sind, sondern
Bedeutungskonstruktionen unterschiedlicher Kräfteverhältnisse, in die
auch und vor allem Medienapparate eingespannt sind.“ (Angerer 1994,
S.123)
Bei meiner Untersuchung der beiden Karnevalsumzüge stütze ich mich auf
sehr unterschiedliche Quellenarten. Da ich insbesondere auch der Frage
nach der jeweiligen medialen Bildpolitik nachgehen möchte, sind
unterschiedliche Film- und Fotomaterialien für meine Analyse von
zentraler Bedeutung. Für den Karneval der Nationen wurde der DEFA-Dokumentarfilm Wer die Erde liebt
(DEFA 1974), sowie unveröffentlichtes Film-Material des Filmarchivs
Potsdam Babelsberg gesichtet. Weitere wichtige Informationen konnten
den Akten des Bundesarchivs (Abteilung Stiftung Archiv der Parteien und
Massenorganisationen der DDR) zum Festivalkarneval, sowie den beiden
offiziellen Bildbänden zu den X. Weltfestspielen (Kottwitz, Gerstäcker
1973; Steineckert, Walther 1974) entnommen werden Bei der Analyse des Karnevals der Kulturen
stehen die Berichterstattungen des Offenen Kanals Berlin und des RBB im
Vordergrund. Zudem kommt neben den Veröffentlichungen der Werkstatt der Kulturen
(Programmheft 2003, Homepage) besonders meiner eigenen Beobachtungen
bei der Teilnahmen am Karneval 2003 ein großer Stellenwert zu.
2. Zu den Kategorien Geschlechtlichkeit, Körperlichkeit und Ethnizität:
Geschlechtlichkeit
Was für Bilder von Geschlechtlichkeit werden in den beiden
Veranstaltungen inszeniert? Bewegen sie sich im Rahmen des binären
Systems, das nur eine ausschließliche, eindeutige und stereotype Form
von Männlichkeit und Weiblichkeit zuläßt? Oder gewähren sie auch ein
eher uneindeutiges ‚Zwischen-den-Geschlechtern‘, das die Ordnung- und
hiermit ist nicht nur die Hierarchie der Geschlechter gemeint- in Frage
stellt?
Die Inszenierungen von Geschlechtlichkeit, die auf dem Festivalkarneval
73 verhandelt werden, bewegen sich eindeutig im starren Rahmen der
Zweigeschlechtlichkeit. Die heterosexuelle Liebe, die idealer Weise in
einer junge Ehe mündet, wird beschworen. Hierbei wird die Frau
stereotyp als Objekt des männlichen Blicks festgeschrieben. Sie gilt
einzig als ‚Kameradin‘ des Mannes und als Garantin für Schönheit und
Anmut. So sollen in einem Teil des Zuges 25 der attraktivsten
Ausländerinnen präsentiert werden.
Diese stereotype Festschreibung von Weiblichkeit kann exemplarisch an
einem Programmpunkt der Abschlußveranstaltung illustriert werden. In
dem Drehbuch zum Zirkus Ziwalalu heißt es über den Programmpunkt Reigenschwimmen:
Reigenschwimmen – in beiden Wasserbecken (3x12 Mädchen). Zum Schluß
des Reigenschwimmens erscheint auf dem Sprungbrett der Reporter G.
Krause, der sich mit einem Fernglas die schwimmenden Mädchen
betrachtet, eine große Angel holt und sich eine ‚Wassernixe‘
(lebensgroße Schaumgummipuppe mit Fischunterleib) heraus fischt und
danach, weil er mit einem solchen Monstrum als Mensch nichts anzufangen
weiß, wieder ins Wasser wirft. (SAPMO-BArch DY/24/7212)
Bei genauerer Betrachtung der Regieanweisung fällt auf: Es sind Mädchen
und nicht Frauen, die hier schwimmen sollen. Die junge, unschuldige
Kindsfrau steht somit im Blickpunkt der Aufmerksamkeit. Das Fernglas,
mit dem der Reporter die Schwimmerinnen betrachtet, verdeutlicht nur
noch mehr die phallische Macht des männlichen Blickes. Mit ihm
unterwirft sich das Subjekt Mann das Objekt Frau. Letztlich wird die
Wassernixe als Monster und unwertes Lebewesen beschrieben, da sie
keinen weiblichen, sondern einen Fischunterleib besitzt. Dies zeigt die
Forderung nach einer eindeutigen (biologischen und kulturellen)
Festschreibung von Weiblichkeit. Abweichungen von der Norm werden nicht
toleriert. Weiblichkeit wird als körperlich, sexuell und zur
Reproduktion dienend festgeschrieben.
Doch auch dreißig Jahre und eine Frauenbewegung später, scheinen nur
(leichte) Verschiebungen im Bereich der Inszenierungen der Geschlechter
stattgefunden zu haben. So wird auch auf dem Karneval der Kulturen-
und gerade in den medialen Berichterstattung zu diesem Ereignis-
Weiblichkeit häufig als Objekt des (männlichen) Blickes zur Schau
gestellt. Frauen, insbesondere der weibliche Körper, dienen als
Garantinnen für Erotik und Faszination.
Männer hingegen werden mit eindeutig maskulinen Attributen, wie zum
Beispiel Hörnern und Speeren ausgestattet. Im Gegensatz zu den
weiblichen Inszenierungen dürfen die männlichen Körper (auch) häßlich
sein, so dass hier vermehrt grotesk-gruselige Masken und Kostüme zur
Darstellung gelangen. Maskulinität wird (nur) dann von den Medien
erotisierend dargestellt, wenn sie dem eindeutigen Bild von weißer,
heterosexueller Männlichkeit nicht entspricht. In diesem Fall wird sie
medial, ebenso wie der weibliche Körper, als das lustversprechende
‚Andere‘ inszeniert.
So bestätigt die Bildpolitik des Karnevals der Kulturen auf
der einen Seite die strikte Trennung in heterosexuelle und eindeutige
Männlichkeit und Weiblichkeit, die wiederum jeweils eindeutig binären
Konnotationen unterliegen. Zugleich zeigen jedoch gerade die Medien
vermehrt Bilder des ‚Zwischen-den-Geschlechtern-Stehens‘. Besonders
Drag Queens finden eine erhöhte Aufmerksamkeit durch die
Fernsehkameras. Ihre Performance steht einerseits für das ‚Aufregende‘
und das ‚Faszinierend-Fremde‘. Andererseits entsprechen diese
Darstellungen bereits so sehr den Sehgewohnheiten der
‚Mehrheitsgesellschaft‘, dass sie kein ernsthaftes Befremden mehr
hervorrufen können. Dragkings hingegen werden eher aus- als
eingeblendet.
Körperlichkeit:
Die Inszenierungen von Geschlechtlichkeit sind meist eng an die
Darstellungen und Vorstellungen von Körperlichkeit gebunden. So werden
gerade Frauen häufig hauptsächlich über ihren Körper definiert und
wahrgenommen. Der Kommentator des RBB zum Karneval der Kulturen
beschreibt den Umzug als „geschmackvolle Verbindung von
Globalisierungsgegner und Wackelpo“. (RBB 2003) Weiblichkeit wird mit
dem körperlichen Attribut Schönheit in Verbindung gebracht. Der Körper
wird sexualisiert.
Der Körper steht also im Mittelpunkt der karnevalesken Aufmerksamkeit.
Körperbilder treten hierbei auf zwei Ebenen auf: der individuellen
sowie der kollektiven.
Der Karnevalszug selber ist bereits ein kollektives körperliches
Erlebnis: Es wird gemeinsam gelacht, getanzt, gesungen, gegessen und
sicher noch einiges mehr. Zugleich inszeniert sich der kollektive
Körper in unterschiedlichen Darbietungen der teilnehmenden Gruppen.
Tragen alle das gleiche Kostüm oder bewegen sich nach genauen Vorgaben
zum gleichen Rhythmus, dann verschmilzt der einzelne Körper mit dem
kollektiven Körper der Gruppe.
In Bezug auf den Festivalkarneval der Weltfestspiele ist hier eine
Besonderheit festzustellen. Spielen in anderen Programmpunkten der
Weltfestspiele Uniformen, die kollektive Bekleidung par excellence,
eine große Bedeutung, so werden sie vom Karnevalszug ausgeschlossen. In
den Anweisungen für Teilnehmende der FDJ heißt es deutlich: „Die
Teilnahme am Karnevalszug kann nicht im FDJ-Hemd erfolgen!“
(SAPMO-Barch DY/24/7184) Trotzdem tritt die Bedeutung der Inszenierung
des Kollektivkörpers via Bekleidung nicht zurück. Sie wird lediglich
auf eine andere Ebene verlagert. Gleichfarbige Kleidung und nationale
Trachten dienen als ‚alternative Uniformen‘.
Eine wirkliche körperliche Entgrenzung findet trotz dieser kollektiven
Dimension nicht statt. Im Gegensatz steht häufig gerade der
disziplinierte Körper im Vordergrund: bei Tänzen, Akrobatik und Sport.
So trägt einer der thematischen Abschnitte des Festivalkarnevals den
Titel: „Die Jugend liebt den Sport und nicht die Unsportlichen“.
(SAPMO-BArch DY/24/7212)
Als besonderes Merkmal des Karnevals 2003 läßt sich die Inszenierung
von Haut und Nacktheit herausstellen. Die Nacktheit und
Zurschaustellung des Fleisches dient ebenso wie die Verhüllung des
Körpers mit einem Kostüm als Maskerade. Neben die reine Nacktheit als
Maskerade tritt in vielen Fällen das Bemalen der Haut. Das Kostüm wird
auf diese Weise direkt am Leib getragen. So gibt es Darstellungen, in
denen durch die schwarze Bemalung der Haut quasi ein umgekehrtes
Passing stattfindet. ‚Eine weiße Frau schlüpft für einen Tag in die
Haut einer schwarzen Frau.‘
Dieses Beispiel zeigt bereits an, wie eng die Präsentation von
Körperlichkeit immer auch mit der Wahrnehmung und Inszenierung von
Ethnizität zusammenhängt.
Ethnizität und Nationenzugehörigkeit:
Die internationalen Teilnehmenden des Festivalkarnevals der X.
Weltfestspiele sollten das bunte, weltoffene und internationale Bild
der Veranstaltung prägen. Doch war es ihnen kaum möglich, tatsächlich
eigene Vorstellungen für ihre Beteiligung beim Karnevalszug
einzubringen. Vielmehr machte das Planungsbüro sehr eindeutige Angaben
in Bezug auf die angeforderte Größe der Gruppen.
So heißt es:
Unter Beachtung der Tatsache, daß der ‚Festivalkarneval‘ eine
bedeutende Veranstaltung des Kulturprogramms der X. Weltfestspiele ist,
sollten sich die nachstehend aufgeführten nationalen
Festivaldelegationen mit folgenden Teilnehmerzahlen beteiligen. Diese
Zahlen stellen die Mindestanforderungen dar. (SAPMO-BArch DY/24/7184)
Eine besonders hohe Beteiligung erwartete man von der BRD (120), der
CSSR (120), Finnland (120), Frankreich (180), Italien (130), Kuba
(100), Polen (120), Rumänien (100), Ungarn (120) und der Sowjetunion
(200). (SAPMO-BArch DY/24/7184) Auch die gewünschte Art des Engagements
unterlag genauen Vorstellungen und Vorgaben. Die Darstellungen sollten
sich im Bereich eindeutiger ethnischer oder nationaler Definitionen
bewegen. Besonders gewünscht waren Nationaltrachten und
Folkloregruppen, die ein vermeintliches kulturelles Erbe auf die Bühne
bzw. die Straße brachten Die Anforderungen an Teilnehmende aus Afrika
und den arabischen Staaten lauteten zum Beispiel: Rhythmusgruppen,
Tanzgruppen, Maskengruppen, Bauchtänzerinnen und Limbotänzer.
(SAPMO-BArch DY/24/7184) Es sollte Typisches gezeigt werden, das sich
jedoch allzu oft als Stereotypes erwies.
Auch Kommentare wie: „Achtung. In dieser Wagengruppe werde Ausländer
mit einbezogen.“(SAPMO-BArch DY/24/7212) lassen die propagierte
Toleranz und Weltoffenheit eher fraglich erscheinen.
Doch nicht nur die ausländischen Teilnehmenden wurden zu
‚landestypischen‘ Darbietungen angeregt. Auch Berlin und die DDR
ethnisierten sich in ihren Beiträgen zum Festivalkarneval quasi selbst.
Gezeigt wurde auch hier, was als typisch betrachtet wurde. So wurde der
Zug durch alte Berliner Fahrzeuge angekündigt, fand sich der Berliner
Bär neben sogenannten Berliner Originalen, wie dem Hauptmann von
Köpenick, Vater Zille und Laierkastenmännern. Bier, Gurken, Brezeln und
Faßbrause wurden ausgeschenkt und von Blasorchestern begleitet. (vgl.
SAPMO-BArch DY/24/7212)
Der Karneval der Kulturen bietet solche Darstellungen
nicht an. Berlin soll sich hier nicht homogen ‚deutsch‘ präsentieren,
sondern bunt und vielfältig: eine hybride Kultur oder farbenfrohe
‚Multikulti-Landschaft‘.
In Bezug auf die Repräsentation des Fremden oder ‚Anderen‘ ergibt sich schließlich jedoch nur ein etwas verschobenes Bild. Beim Karneval der Kulturen
laufen ethnisch definierte Gruppen neben sozialen Trägern und
elektronischen Musikwagen. Die Gruppen dürfen ihren Beitrag zwar selbst
gestalten, doch die Organisatorinnen wählen aus, was als Zeigenswert
gilt und was nicht. Zugleich unterliegen die in den Medien
transportierten Bildern einer starken Selektion. In ihren
Berichterstattungen konstruieren die Medien einen Karneval, der
scheinbar hauptsächlich aus ethnisch definierten Formationen besteht.
Für beide Veranstaltungen läßt sich schließlich feststellen: Es werden
vor allem Bilder gezeigt, die drei Kriterien entsprechen. Erstens
müssen die dargebotenen Inhalte expressiv sein. Zweitens sollte via
Kleidung, Musik und Tanz eine eindeutige Zuordnung zu einer ethnischen
Gruppe stattfinden können. Und drittens fällt auf, dass trotz der
propagierten ethnischen Differenz die Einzelelemente vergleichbar sind
– Alle bewegen sich gemeinsam in einem Karnevalszug, in dem getanzt,
getrommelt und gesungen wird. (vgl. Welz 1996, S.300f.)
Die fremden Kulturen und Traditionen sollen als scheinbar authentisch
inszeniert werden und zugleich den westlichen Seh- und Hörgewohnheiten
angepasst sein. Gisela Welz, die sich intensiv mit Inszenierungen von
Ethnizität beschäftigt hat, schreibt hierzu: „Fremdkulturelle Musik muß
also für westliche Hör-, Seh- und Körpergewohnheiten inszeniert werden,
um vom Publikum als authentisch erfahren werden zu können.“(Welz 1996,
S.259) Eine ernsthafte Verstörung ist in beiden Programm- bzw.
Karnevalsentwürfen somit nicht vorgesehen.
Auf diese Weise werden fremde Kulturen zwar in einem positiven Kontext
dargestellt. Zugleich werden sie jedoch als das wilde und
begehrenswerte ‚Andere‘ festgeschrieben. Als Idealbild dieses
begehrenswerten Anderen können exemplarisch der ‚wilde, primitive
Schwarze‘ und die weibliche Sambatänzerin gesehen werden. Sie
versprechen beide Zugang zu verlorener Freude und ungezügelter Lust.
Via Blick können sich die Zuschauenden dieses Begehren selbst aneignen.
So können sie scheinbar für einen Moment aus ihrem geregelten Leben
ausbrechen. (vgl. Hooks 1994; Hooks 1997) Letztlich sagen die ethnisch
definierten Darbietungen so mehr aus „über die Kultur, die diese
Darbietungen inszeniert und rezipiert, als über die dargestellten
Kulturen“ (Welz 1996, S.279) selbst.
3. Ausblick:
Karneval der Nationen und Karneval der Kulturen. Zwei
sehr unterschiedliche und doch sehr ähnliche Veranstaltungen. 30 Jahre
und viele Veränderungen liegen zwischen ihnen. Gerade im Bereich der
Geschlechterverhältnisse hat sich seitdem einiges verändert. Die
Kulturpolitik und das Verständnis in Bezug auf andere Nationen und
Kulturen hat sich weiterentwickelt und gewandelt. Neben die Nation als
festem Bezugspunkt sind die Aspekte Ethnizität und (Multi-)Kultur
getreten. Nicht umsonst heißt der Karneval der Kulturen nicht Karneval der Nationen.
Die Betrachtung der in beiden Veranstaltungen entworfenen Bilder von
Geschlechtlichkeit, Körperlichkeit und Ethnizität haben jedoch gezeigt,
dass ein Vergleich dieser beiden Karnevalszüge in Bezug auf ihre
Bildpolitik nicht nur Unterschiede aufwirft. Statt tatsächlichen
Brüchen oder Neuinterpretationen haben lediglich Verschiebungen
stattgefunden.
Doch ist der Festivalkarneval mehr als nur ein Programmpunkt der X.
Weltfestspiele. Die Karnevalsmetapher wurde im Verlauf der
Sommeruniversität zu den X. Weltfestspielen mehrfach bemüht, um sich
dem Phänomen Weltfestspiele 73 zu nähern. Und auch die Berliner Zeitung
vom 1.8.2003 titelte in Bezug auf die Veranstaltung in Ost-Berlin:
„Karneval der Verheißungen“.
Karneval heißt Entgrenzung. Es heißt, für einen Moment des positiven
Ausnahmezustandes das zu leben, was im Alltag nicht oder noch nicht
möglich ist. (vgl. Braun 2002) Es heißt auch Spiel mit der verkehrten
Welt und Umkehrung der Verhältnisse. (vgl. Schindler 1984)
Die Verantwortlichen des Festivalkarnevals haben in ihren
Konzeptentwürfen ausdrücklich diese Potenz des Karnevals als Gegenmacht
betont. Mit dem Gegner, der verlacht und gegen den Macht ausgeübt
werden sollte, war jedoch lediglich der Imperialismus gemeint. Eine
kritische Betrachtung des eigenen Systems war nicht erwünscht.
Karneval heißt auch Chaos und Unordnung. Der Festivalkarneval war
jedoch genau organisiert und strukturiert. So wurden nicht nur
Laufbänder und Stellkarten angefertigt, sondern auch jedes Detail
aufgelistet, wurden eindeutige Anforderungen und Verhaltensmaßregeln
für die Teilnehmenden festgelegt. Besondere Vorkommnisse gab es laut
Aktenbericht nicht.
73 sollte der Eindruck von Spontaneität, Internationalität und
Weltoffenheit vermittelt werden. Die für den Karneval untersuchten
Kategorien von Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit und Ethnizität
grenzen jedoch eher aus als ein.
Es sind mit Definitionsmacht aufgeladene Kategorien, auf deren
Imaginationen sich Gesellschaften und Nationen konstituieren. Zu dieser
Konstitution muß das Fremde und ‚Andere‘ als das Bedrohliche
ausgeschlossen werden. (vgl. Bronfen, Marius 1997) Fremd und Anders
sind zum Beispiel Menschen und Konzepte, die sich einer Einordnung in
das strenge System der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit
entziehen, aber auch nicht funktionale Körper oder kulturell Fremde,
die qua ethnischer Benennung häufig erst zu Fremden gemacht werden. Der
Ausschluß und die Benennung des Fremden als ‚Anderem‘ wird als Kontrast
zur Benennung des ‚Eigenen‘ oder der ‚Norm‘ benötigt. Zugleich dient es
als „Indiz für einen gelungenen fortschrittlichen politischen Wandel.“
(Hooks 1994, S.39)
Der Karneval hätte ein Ort und eine Stimme dieses Anderen in allen
Formen sein können. Er hätte, wie die gesamten X. Weltfestspiele, zur
Gegenmacht gegen die eingrenzenden Aspekte des DDR Regimes und Systems
werden können. Doch trotz aller vermeintlichen Entgrenzungen im Rausch
des Festes, blieben die Grenzen letztlich doch sehr eng gesteckt.
Literaturverzeichnis:
Quellen:
Zum Karneval der Nationen:
SAPMO-BArch, DY/24/7179.
SAPMO-BArch, DY/24/ 7212.
SAPMO-BArch, DY/24/7184.
Hellwig, Joachim: Wer die Erde liebt. Ein Dokumentarfilm über die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin. Berlin 1974.
Kottwitz, Eberhard; Gerstäcker, Manfred: X. Festival. Weltfestspiele der Jugend und Studenten Berlin- Hauptstadt der DDR – 1973. Dresden 1973.
Steineckert, Gisela; Walther, Joachim: Neun-Tage-Buch. Die X. Weltfestspiele in Berlin. Erlebnisse, Berichte, Dokumente. Berlin 1974.
Zum Karneval der Kulturen:
offizielles Programmheft des Karnevals der Kulturen 2003, hrsg. von der Werkstatt der Kulturen.
www.karneval-berlin.de
Sendungen des Offenen Kanals Berlin vom 7.-9.6.2003 zum Straßenfest und Straßenumzug des Karnevals der Kulturen.
Live-Übetragung des Straßenumzugs Karneval der Kulturen des RBB vom 8.6.2003.
Sekundärliteratur:
Angerer, Marie-Luise: Vom Unbehagen der Geschlechter in der
Kultur. Über Differenz, Andersheit und Identität. Feministische
Perspektiven. In: Kurt Luger, Rudi Renger (Hrsg.): Dialog der Kulturen.
Die multikulturelle Gesellschaft und die Medien. Wien 1994, S.110-128.
Braun, Karl: Karneval? Karnevaleske. In: Zeitschrift für Volkskunde (Bd.98) 2002, S.1-15.
Bronfen, Elisabeth; Marius, Benjamin: Hybride Kulturen.
Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. In:
dies. (Hrsg.): Beiträge zur anglo-amerikanischen
Multikulturalismusdebatte. Tübingen 1997, S.1-30.
Hooks, Bell: Selling hot pussy. Representations of black female
sexuality in the cultural marketplace. In: Katie Conboy, Nadia Medina,
Sarah Stanbury (Hrsg.): writing on the body. Female Embodiment and
Feminist Theory. New York 1997, S.113-128.
Hooks, Bell: Black Looks. Popkultur- Medien- Rassismus. Berlin 1994.
Herold, Frank: Karneval der Verheißungen. In: Berliner Zeitung (Nr.177), 1.8.2003.
Schindler, Norbert: Karneval, Kirche und die verkehrte Welt. Zur
Funktion der Lachkultur im 16.Jahrhundert. In: Jahrbuch für Volkskunde.
(Bd.1) 1984, S.9-57.
Welz, Gisela: Inszenierungen kultureller Vielfalt. Frankfurt am Main und New York City. Berlin 1996.
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