Thema | Kulturation 1/2003 | Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn: Kultur | Uwe Rada | Berlin - Tor zum Westen?
| Zwei Bemerkungen
Ich will mit zwei Beobachtungen beginnen, einer zwei Jahre alten und einer aktuellen:
Auf
dem Bahnhofsvorplatz in Poznan stand im November 2000 eine großflächige
Werbetafel der polnischen Staatsbahn PKP. Darauf stand: "Do Warszawy i
Berlina Pociagami EC, IC, Ex - Najszybciej" - "Nach Warschau und Berlin
am schnellsten mit Eurocity, Intercity und Express". Auch vor der
Einführung des "Berlin-Warszawa-Express" (der ohnehin nur eine neue,
teurere Verpackung für alte Schläuche war), war Berlin für die
Bahnreisenden der westpolnischen Boomtown ein Reiseziel, für das zu
werben sich lohnte.
Auch auf dem Bahnsteig des Regionalbahnhofs Berlin Alexanderplatz war
vor kurzem eine Werbetafel zu sehen, eine äußerst ungewöhnliche sogar,
denn sie war auf polnisch. Darauf stand: "Pewny przekaz pieniezny to
nasza mocna strona" - "Sichere Geldüberweisungen sind unsere starke
Seite". Mit diesem seltenen Beispiel überschritt das an
polnischsprachige Reisende gerichtete Ethno-Marketing die Werbung in
polnischen Printmedien. Das ist insofern bemerkenswert, als dieser
Schritt in Richtung Outdoor-Werbung von der Privatwirtschaft, in diesem
Fall der "Western Union" gegangen wurde, und nicht von öffentlichen
Institutionen wie der BVG, der Berliner Flughafengesellschaft oder den
Straßenverkehrsbehörden. Es gibt offenbar einen Markt für Hinweise auf
polnisch im öffentlichen Raum, nur hat das von den Politikern und
Beamten in Berlin noch keiner gemerkt.
Tor zum Westen
Es soll also hier um Berlin gehen, um "Berlin als Tor zum Westen". Vor
dem Hintergrund der neu erwachten Diskussionen über die räumliche Lage
Berlins wären andere Begriffe – Knoten, Korridore, Zentrum oder
Grenzstadt – sicher treffender. Nimmt man „Tor zum Westen“ aber als
Metapher, ist der Begriff durchaus brauchbar. Schließlich bemüht Berlin
seit dem Fall der Mauer selbst dieses Bild, allerdings nicht als „Tor
zum Westen“, sondern als „Tor zum Osten“.
In dieser Gegenübersetzung liegt auch schon das ganze Dilemma der
letzten Jahre. Indem sie trotzig auf dem Leitbild Tor zum Osten
beharrten, übersahen die Akteure, dass Berlin schon längst zum Tor des
Westens geworden war. In Marzahn zum Beispiel spricht inzwischen jeder
zehnte Bewohner Russisch. Insgesamt leben in Berlin über 100.000
russischsprachige Spätaussiedler beziehungsweise ihre russischen
Familienangehörigen. Hinzu kommen 15.000 jüdische Migranten, die als
Kontingentflüchtlinge aufgenommen wurde, den bekanntesten von Ihnen
kennen Sie alle, es ist Wladimir Kaminer.
Noch deutlicher wird die Bewegung von Ost nach West, wenn man sich die
polnische Migration anschaut. Neben den 30.000 polnischen
Staatsbürgern, die seit den achtziger Jahren hier leben, im
wesentlichen als Flüchtlinge vor dem Kriegsrecht, sind ebenfalls etwa
100.000 Spätaussiedler nach Berlin gekommen. Anders als die
Russischsprachigen, die hier fernab der alten Heimat leben, halten sie
den Kontakt zu Polen meistens aufrecht.
Schließlich, und hier gibt es kaum verlässliche Zahlen, kommen nach
Berlin die, die hier nicht dauerhaft leben, sondern als Pendler
arbeiten wollen. Wer am Montag morgen einmal mit dem Zug von Küstrin
nach Berlin gefahren ist, bekommt eine bildhafte Vorstellung von der
Lage Berlins als erster Stadt des Westens. Manche, wie die Berliner
Ausländerbeauftragte sagen, etwa 100.000 Pendler seien regelmäßig in
Berlin, eine Zahl die der polnische Sozialrat nicht bestätigen will.
Sei’s drum, inzwischen haben auch die Pendler ihren festen Platz in
dieser Stadt, man muss sich nur umhören und fragen, wie es sein
Gegenüber mit der Putzfrauenfrage hält.
Und dann sind ja noch die, die nicht in Berlin leben und arbeiten
wollen, also die Touristen. 150 Millionen Menschen passieren
mittlerweile jährlich die deutsch-polnische Grenze, die meisten von
ihnen, etwa zwei Drittel von ihnen sind Polen. Es gibt also auch hier
eine Ost-West-Bewegung. Und die führt nicht nur zu den europäischen
Baustellen und Urlaubszielen, sondern auch zum Kaufhof am
Alexanderplatz, zum Kurfürstendamm, zum Potsdamer Platz und auf die
Museumsinsel.
Blick auf Berlin
Welches Bild von Berlin haben nun diejenigen, die sich auf diesen
verschiedenen Wegen und aus den unterschiedlichsten Gründen auf den Weg
machen?
Ist es das des Nachrichtenmagazins "Wprost", das unlängst mit einer
Titelgeschichte über den deutschen „Drang nach Osten“ Aufsehen erregte
und zuvor in einem Beitrag über die "Dziura Berlinska", das Berliner
Loch, vom Haushaltsnotstand in Berlin berichtete und die Frage aufwarf,
wie lange sich Berlin wohl noch seine hochsubventionierte
Kulturlandschaft würde leisten können?
Haben die Reisenden, Studenten aus Breslau oder Stettin zum Beispiel,
den anspruchsvollen Reiseführer des Pascal-Verlags in die Hand
genommen. Dort erfahren sie allerlei über die Kneipenszene in Mitte und
Prenzlauer Berg, über Schwule und Lesben, aber nichts über den in
Berlin inzwischen populären Club der polnischen Versager. Haben Sie,
wenn sie in Warschau leben, vielleicht einmal die „Berlin-Tage in
Warschau“ erlebt, jenes Hauptevent der Städtepartnerschaft
Berlin-Warschau, in dem sich Berlin freilich weniger als
Kulturmetropole präsentiert, sondern als Kompetenzzentrum für
Plattenbausanierungen.
Vielleicht haben sie auch nur den Stellenmarkt in der polnischen
Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" durchgeblättert, nach Stellenangeboten
für Reinigungskräfte, Handwerker oder Mädchen für alles. Suche Arbeit,
steht dort meist nur, Deutschkenntnisse nötig, oder auch nicht.
Den vielleicht aufschlussreichsten Beitrag über das Berlin-Bild in
Polen hat allerdings vor einiger Zeit das Nachrichtenmagazin „Polityka“
veröffentlicht. Unter der Überschrift „Kierunek Berlin“ (Richtung
Berlin) war auf der Titelseite ein Foto des Brandenburger Tors
abgebildet. Darunter stand „Co nas czeka za brama“ – „Was erwartet uns
hinter dem Tor“. Die Antwort lautete: Nichts, was uns Angst bereiten
müsste. Schon gar nicht würde Warschau, wie zuvor rhetorisch gefragt
wurde, ein Vorort von Berlin werden.
Und doch, so lautete das Resümee dieser Titelgeschichte, würde Berlin
in vielem die Richtung angeben. Vor allem in den Grenzregionen würde es
als natürlicher Magnet ein neues, grenzüberschreitendes Zentrum bilden.
Sinnbild dafür wäre der neue Lehrter Bahnhof, der größte in ganz
Europa, der seine Rolle als Drehscheibe nur entfaltete, wenn er die
Ströme der Reisenden nicht nur nach Westen, Norden und Süden, sondern
auch nach Osten verteilt. Oder, in „Richtung Berlin“, aufnimmt.
Gebrauchswissen
Es wird erstaunlich viel geschrieben über Berlin in den polnischen
Medien, in Tageszeitungen wie in politischen Magazinen. Dass Berlin für
die meisten Polen keine fremde Stadt mehr ist, liegt aber auch noch an
einem anderen Wissen über die Stadt, einem Wissen, das nicht aus den
Medien herrührt, sondern aus eigenen Erfahrungen oder denen von
Verwandten und Bekannten.
Es ist dies ein „Gebrauchswissen“, das bis weit nach Polen hinein
verbreitet ist. Der Ethnologe Norbert Cyrus hat das einmal am Beispiel
der Pendlerökonomie beschrieben. Es ist ein engmaschiges Netz an
Kontakten, das ganz Westpolen überzieht und es jedem Arbeitssuchenden
ermöglicht, bereits zu Hause Kontakt zu seinem neuen Arbeitsgeber
aufzunehmen.
Über dieses Gebrauchswissen verfügen aber nicht nur die Pendler,
sondern auch die Touristen. Auch sie benutzen Berlin inzwischen mit
einer Selbstverständlichkeit, von der wir noch sehr wenig wissen. Die
Stettiner fliegen ab Tegel in den Urlaub, die Scheibenwäscher kommen
von Bialystok zur Elsenbrücke, um sich dort die langersehnte
Europareise zu erwirtschaften. Die junge Breslauer Szene zieht es
manchmal eher nach Berlin als nach Warschau. Und die Love Parade, die
in Polen Parada Milosci heißt, hat in den vergangenen Jahren
Zehntausende junger Polen nach Berlin gezogen. Und inzwischen, so hat
es die IHK errechnet, machen Polen und Russen 40 Prozent des
Einzelhandelsumsatzes unter den ausländischen Berlin-Besuchern aus.
Richtung Berlin, das ist eine Bewegung auf vielen Wegen. Berlin ist für
polnische Reisende und die Polen in Berlin eine Selbstverständlichkeit
geworden, eine Stadt, die nicht mehr nur fremd ist, sondern auch
vertraut. Wer von Polen nach Berlin kommt, fährt nicht mehr in die
Fremde, sondern ist angekommen. Die polnischen Hinweisschilder auf den
Bahnsteigen von Poznan und Berlin-Alexanderplatz schaffen keine neue
Realität, sie bilden sie nur ab.
Fremdes Polen
Wie aber sieht es umgekehrt aus? Wie selbstverständlich ist Polen für die Berliner? Was wissen wir von Polen?
Fragen Sie einmal in Ihrer Arbeitsumgebung, welche drei polnischen
Wojewodschaften an der Grenze liegen. Was ihre Hauptstädte sind. Wie
weit Stettin von Berlin entfernt liegt, wie viele Einwohner es hat.
Oder schauen Sie in die Zeitungen, nicht in die Berichte der
Polenkorrespondenten, sondern an die Stellen, an denen es eigentlich um
ein ähnliches Gebrauchswissen gehen müsste, von dem vorhin die Rede
war. In den Berliner Zeitungen finden Sie davon so gut wie gar nichts,
und in den grenznahen Regionalzeitungen zumeist nur Berichte über
Diebstähle oder Schlepperbanden, die Flüchtlinge aus dem so genannten
„Warteraum Polen“ über Oder und Neiße bringen wollen.
Selbst ambitionierte Projekte, wie eine gemeinsame wöchentliche Seite
der Lausitzer Rundschau und der Gazeta Lubuska wurden inzwischen
eingestellt. Die Begründung lautete von deutscher Seite: Es gebe
schlicht kein Interesse. Und das scheint sogar zu stimmen. Wenn man
sich den deutsch-polnischen Pressespiegel im Grenzgebiet anschaut, der
bis vor anderthalb Jahren noch von der Transodra und dem Stettiner
Zentrum für europäische Integration herausgegeben wurde, stellt man
fest, dass auch im Grenzgebiet von polnischer Seite mehr über die
deutsche geschrieben wurde als umgekehrt.
Die Transodra gibt es inzwischen auch nicht mehr. Das brandenburgische
Europaministerium hat die Gelder gestrichen. Auch hier die Begründung.
Kein Interesse.
Asymmetrie
Von Alltagswissen, gar Gebrauchswissen gegenüber Polen kann also von
deutscher Seite keine Rede sein. Es herrscht vielmehr eine Asymmetrie
der Interessen, wie es der Leiter des Collegium Polonicum in Slubice,
Krzysztow Wojciechowski einmal gesagt hat.
An dieser Asymmetrie, und damit wären wir wieder in Berlin, ist die
Politik ganz wesentlich beteiligt. Sie alle wissen es, seit mehr als
zehn Jahren schaut man in Berlin vornehmlich in Richtung Westen. Der
Osten, selbst Polen war im Grunde nur als Absatzmarkt für Berliner
Produkte oder als Betätigungsfeld für Berliner Firmen interessant.
Nicht einmal um die polnischen Kunden hatte man sich bemüht. Obwohl
sich Berlin selbst als Os-West-Drehscheibe wähnte, kehrte die Städte
ihrem Osten den Rücken zu.
Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit Polnisch als Fremdsprache in den
Berliner Schulen. Während in jedem anderen Grenzgebiet Zweisprachigkeit
– auch als Voraussetzung für interkulturelle Kompetenz - als
erstrebenswert gilt, kann in Berlin davon keine Rede sein.
Zwar sagte der Berliner Schulsenator in einer Rede zum Thema "Berlin -
Stadt des Wissens" am 7. April 2001: "Wir haben in Berlin die besondere
Chance, dass wir die Sprache unserer Nachbarländer, insbesondere
Polnisch, stärken."
Und so sieht die Realität aus. Polnisch wird in Berlin derzeit in den
drei deutsch-polnischen Europaschulen angeboten. Der
Robert-Jungk-Schule in Wilmdersdorf, einer Gesamtschule. Der
Gabriele-von-Bülow Oberschule, einem Gymnasium in Reinickendorf. Und
der Goerdeler-Grundschule in Charlottenburg.
In der Robert-Jungk-Schule ist Polnisch seit 1997/98 als zweite
Fremdsprache zugelassen. Seitdem entscheiden sich etwa zehn Schüler pro
Jahrgang dafür. Zum Vergleich. Am deutsch-polnischen Gymnasium im
mecklenburg-vorpommerschen Löcknitz sind es 50 Prozent.
Noch schlechter sieht es bei der Gabriele-von-Bülow-Schule aus. Die
wurde erst seit Mai 2001 zu einer "europäischen Begegnungsschule mit
Polen" erklärt, bietet Polnisch aber lediglich als dritte Fremdsprache.
In der Goerdelerschule schließlich ist Polnisch für zwei Vorklassen und
eine Klasse 1 Begegnungssprache.
Hier zu zwei Vergleiche. Der eine ist aus Berlin selbst. Anders als
Polnisch kann man Russisch in Berlin an 49 Gymnasien beziehungsweise
Gesamtschulen mit gymnasialer Oberstufe als zweite Fremdsprache
belegen. Fast möchte man meinen, achtzig Kilometer von Berlin entfernt
beginnt nicht die polnische, sondern die russische Grenze.
Das zweite Beispiel ist Brandenburg. Dort lernen inzwischen über 1.200
Schüler polnisch. 116 Schulen haben eine Partnerschaft mit polnischen
Schulen geschlossen. Selbst die Kleinen lernen Polnisch als
Begegnungssprache kennen, und zwar im Rahmen des bereits seit 1994
existierenden deutsch-polnischen Projektes "Spotkanie heißt Begegnung -
Ich lerne Deine Sprache". Getragen wird das Projekt von den "Regionalen
Arbeitsstellen für Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule
Brandenburg" (RAA). Das Projekt ist für Grundschüler der 3. und 4.
Klasse konzipiert und beinhaltet pro Woche zwei Stunden Deutsch-, bzw.
Polnischunterricht sowie mindestens acht Begegnungen zwischen den
Partnergruppen. Mittlerweile wurden 36 Deutsch- und 38 Polnisch AG's
auf beiden Seiten der Oder eingerichtet.
Zukunft
Wo stehen wir also in unserer angeblichen kulturellen Mitte zwischen Ost und West?
Meine These hierzu lautet. Es gibt zwei grundverschiedene Umgänge mit
dem Thema. Der eine lautet weitere Verdrängung dessen, dass Berlin mehr
ein Tor zum Westen denn ein Tor zum Osten ist.
Der andere ist der Versuch, mit der Tatsache, ein Tor zum Westen und eine Grenzstadt zu sein, pragmatisch umzugehen.
Bespiele für eine Verdrängung finden sich auf allen Ebenen der
Verwaltung. Die Ignoranz des Schulsenators gehört ebenso dazu wie die
Absicht, in Hellersdorf und Marzahn leerstehende Plattenbauten
abzureißen, obwohl man weiß, dass es womöglich bald wieder eine
Nachfrage nach bislang eher unvermietbaren Wohnungen geben kann. Auch
der Umbau des Alexanderplatzes gehört meines Erachtens zu einer solchen
Politik der Abschottung. Interessant ist hier auch das Vokabular der
Akteure. So heißt es etwa in der Stadtentwicklungsverwaltung ganz
unverblümt, dass der Alex nicht mehr länger ein offener Platz sein,
sondern geschlossen werden soll. Nicht mehr länger ein Platz des
Ostens, ein Tor zum Osten (oder zum Westen, je nach Perspektive),
sondern ein Platz für alle Berliner.
Was das heißt, wissen Sie. 350.000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche
sind hier geplant, das ist das siebenfache des Potsdamer Platzes. Für
die zahlungskräftige polnische Kundschaft mag das ein Angebot sein, für
die anderen, die Berlin als erste Stadt des Westens betrachten, und die
sind wohl in der Mehrzahl, türmt sich dagegen am Alex eine städtisches
Gewitter auf, das das Gegenteil eines Tores ist, nämlich eine Barriere.
Es gibt aber auch Gegenbeispiele, die auch Hinweis darauf sind, dass
ein umdenken stattgefunden hat. Im November 2001 etwa widmete sich das
Berliner Stadtforum dem Thema Westpolen. Dort wurde immerhin auch
Klartext geredet. Dass es ein nicht hinnehmbar sei, keine
Direktverbindung nach Stettin zu haben, immerhin die Berlin am nächsten
gelegene Großstadt.
Dass im Umkreis von 300 Kilometern, also jener Strecke, die man
innerhalb eines Tages hin und zurück erreichen kann, neun Millionen
Polen leben, alles potenzielle Kunden für die Berliner Wirtschaft.
Dass es ein Skandal sei, wenn die Fahrgäste im Zug von Küstrin nach
Berlin immer noch schikaniert würden, weil dieser Zug immer noch als
Schmugglerzug gilt.
Dass das Polnische nicht länger eine exotische Sprache sein dürfe.
Diese Selbstkritik eines Mitarbeiters der Strieder-Verwaltung richtete
sich auf etwas, das tatsächlich selbstverständlich sein müsste, dass
nämlich Berlin seine Lage als Grenzstadt oder Tor zum Westen auch als
Chance begreifen sollte. Dass es sich seinen Gästen und Bewohnern aus
Polen noch weiter öffnet. Nicht aus humanitären Gründen wie noch Anfang
der achtziger Jahre als Zehntausende Flüchtlinge der Solidarnosc nach
Berlin kamen, sondern aus purem Eigennutz. Dass Berlin begreifen muss,
dass es ein Tor zum Osten nur werden kann, wenn es seine Lage als Tor
zum Westen und Grenzstadt ernst nimmt.
Diesbezüglich scheint sich auch in der Wirtschaftsverwaltung ein
pragmatischerer Umgang abzuzeichnen. Das betrifft vor allem den Umgang
mit der informellen Ökonomie. Wie Sie wissen, wird in der Hauptstadt
schon jeder fünfte Euro schwarz erwirtschaftet, genauer gesagt 21,6
Prozent. Damit ist Berlin tatsächlich einmal nicht mehr Schlusslicht
unter den deutschen Bundesländern, sondern Spitzenreiter. Selbst den
internationalen Vergleich braucht es nicht zu scheuen. 21,6 Prozent,
das ist auch ein europäischer Spitzenwert. Wir haben also hier zwar
keine süditalienischen Verhältnisse, norditalienische aber allemal.
Natürlich tut man sich noch schwer, das anzuerkennen. Aber zu den
Dingen, die in Bewegung geraten sind, zähle ich immerhin einen Auftritt
des Berliner Wirtschaftsstaatssekretärs Volkmar Strauch auf einer
Konferenz zum Thema "BorderCity Berlin - Chancen einer Grenzstadt", die
von Helle-Panke organisiert, im Oktober in der Europäischen Akademie
stattgefunden hat.
Auf dieser Konferenz erklärte Strauch, dass zum Beispiel der informelle
Sektor auch Vorteile mit sich bringe: "Es gibt hier Entwicklungen, die
sich auch auf andere Teile der Wirtschaft positiv auswirken." Dies
betreffe vor allem die Grenznähe und die in Berlin arbeitenden
polnischen Pendler. Strauch beklagte weiter, dass man über das Thema
informelle Ökonomie oder Schattenwirtschaft immer nur als Problem rede
oder es aber elegant umschiffe.
Dabei wäre eine neue Diskussion nötig, die auch die Chancen betone.
Seine Rolle sehe er darin, einige Fragen zu stellen: "Warum nicht
einmal durchrechnen, was die steuerliche Absetzungsfähigkeit für
Investitionen in die eigene Wohnung bringt?" Vielleicht komme man dann
zum Ergebnis, dass Steuerausfälle durch Steuereinnahmen aufgrund
legaler Beschäftigung vormals illegaler Handwerker übertroffen werde.
Auch beim Thema Osterweiterung schlug der ehemalige Geschäftsführer der
Industrie- und Handelskammer neue Töne an. "Für Berlin mit seiner
Grenznähe wäre eine sofortige Erweiterung ohne Einschränkung der
Freizügigkeit das Beste." Strauch plädierte deshalb für eine "Politik
des Augezudrückens". Man müsse also "alle Ausnahmevorschriften und
Ermessensspielräume nutzen, und zwar in dem Sinne, als wäre Polen jetzt
schon Mitglied der EU und nicht erst in anderthalb Jahren".
Strauchs Fazit: "Nur so können wir gegenüber anderen Regionen und Städten den Vorteil der Grenznähe ausnutzen."
Fazit
Deuten diese kleinen Schritte, und damit komme ich zum Ende, aber auf
einen grundlegenden Wandel im Denken hin? Sind sie sogar vielleicht
Vorboten eines Blickwechsels von West nach Ost, gar eines
Perspektivenwechsels, mit dem Ziel, Berlin als "Tor zum Westen" oder
als Grenzstadt ernst zu nehmen?
Ich glaube, dass das, trotz aller Pragmatik, die sich abzeichnet, erst
der Fall sein wird, wenn sich auch ein anderes Polenbild durchsetzt,
wenn die Asymmetrie der Interessen abgebaut wird. Dazu müssen aber auch
die Voraussetzungen geschaffen werden. Durch Tore muss man nicht nur
gehen wollen, man muss auch durch sie gehen können.
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