Thema | Kulturation 2/2004 | Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn: Kultur | Krzysztof Wojciechowski | Meine Deutschen – mein Europa Beitrag
auf der Tagung "Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn -
wirtschaftliche und kulturelle Aspekte der neuen europäischen
Situation" im Februar 2004 | Beitrag
auf der Tagung "Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn -
wirtschaftliche und kulturelle Aspekte der neuen europäischen
Situation" im Februar 2004
Für meinen Beitrag auf dieser Tagung greife ich auf drei Passagen
aus meinem Buch „Meine lieben Deutschen“ zurück. Es ist 2002 im
Westkreuz-Verlag, Berlin/Bonn erschienen.
Wann hat mein Europa begonnen? War das meine erste Reise
in die DDR, die ich im Jahre 1972 als Schüler gemacht habe? Ich
bereiste damals per Anhalter die ganze Republik und begriff, dass das
Leben in benachbartem Land ganz anders ist, als in meinem und doch
versteht man den Anderen in seinen Emotionen und Grundreflexen. Es
haben mich viele Sachen schockiert: dass die meisten Leute Autos
hatten, dass fast jede Familie eine Datscha hat, dass auf dieser
Datscha Schnaps aus kleinen Plastikgläsern getrunken wird, dass die
Jugendlichen blaue Uniform-Blusen tragen und gleichzeitig
Hippiefriseuren haben, und dass mich Homosexuelle offen in der Straße
ansprechen. Das Wechselbad der Gefühle zwischen dem Fremden und
Gewohnten war mein erstes europäisches Training.
Dann begannen meine Reisen per Anhalter durch ganz Europa.
Der
Mensch ist wie der Pawlow’sche Hund. Ein antrainierter Reiz ruft eine
entsprechende Reaktion hervor. Die gesamten siebziger Jahre hindurch
war ich als Gymnasiast und dann als Student in den Ferien per Anhalter
durch Europa gegondelt. Das Reisen per Anhalter ist eine ernste
Angelegenheit, entweder ein großer Erfolg oder eine völlige Niederlage,
und man erwirbt dabei schnell praktisches Wissen. An den
Nummernschildern der anhaltenden Wagen konnte ich sofort erkennen, was
mich im Laufe der kommenden Stunden erwarten würde. Wenn mich ein
Franzose oder ein Italiener mitnahm, wusste ich, dass sich im Nu ein
lebhaftes Gespräch mit Ausrufen und viel Gelächter entwickeln würde,
gefolgt von einer schnellen und plötzlichen Trennung, ohne
Verpflichtungen, aber dennoch unangenehm. Wenn ein Deutscher anhielt,
wusste ich, dass er eine lange halbe Stunde lang schweigen und dann
fragen würde: „Hast du heute schon etwas Ordentliches gegessen?“
Daraufhin gab es in der Regel entweder ein anständiges Frühstück in
einem Motel unterwegs, manchmal auch ein Mittagessen, oder aber
wenigstens eine Konserve mit Brot. Einmal habe ich einen Fünfkilo-Eimer
Schmelzkäse geschenkt bekommen. Danach folgten Gespräche – sie waren
prinzipiell und voller Sorge über meine Reise oder sogar über Polen,
und schließlich die Trennung, manchmal sogar erst nach zwei Tagen, mit
Adressentausch und den Versicherungen, dass ich immer zu Besuch kommen
und bleiben könne, so lange ich wolle. Nie habe ich von diesen
Angeboten Gebrauch gemacht, doch fühlte ich mich behaglich mit diesem
Gefühl von Sicherheit und Fürsorge, die im Leben eines Anhalters etwas
seltenes und wertvolles sind. Zuletzt war ich so dressiert, dass es
mir, so oft ich in der Welt die kehligen Laute der deutschen Sprache
hörte, warm ums Herz wurde. Ich sagte mir: „selbst wenn du jetzt
bewusstlos würdest, umfielest – ein ruhig denkender Kopf nähme sich
deiner an!“
Ein zuverlässiger, fürsorglicher Deutscher. Ein
Stereotyp? Beruht nicht unsere europäische Bildung auf Stereotypen? Les
stereotyps ne sont pas innocents pflegen die Franzosen zu sagen. Mein
deutsches Stereotyp war eine Summe aller positiven Erfahrungen und
unterschied sich vom gängigen Stereotyp des sachlichen, arbeitsamen
aber kalten Germanen. Als ich 1978 nach Indien fuhr, begegnete ich
einem deutschen Maler, der bei mir die positive Deutschen-Empfindung
für immer festigte. Wir lernten uns in der Stadt Khajuraho kennen, dem
historischen Zentrum des tantrischen Kults. Wir nahmen zu zweit ein
Hotelzimmer.
Am Abend aßen wir in der elenden
Wirtschaft neben dem Hotel zu Abend. In der Ecke des Saales stand ein
Kessel mit Reis und wir sahen, wie der Koch mit seiner dreckigen Pranke
hineingriff und uns zwei Handvoll Reis auf die Teller schaufelte.
Danach brachte er einen von Fliegen schwarzen Topf und begoss unseren
Reis mit einer Gemüsesauce.
Das Essen war lecker und duftete nach Koriander, aber wir
aßen nur widerwillig und mit dem Gefühl, damit unser Todesurteil zu
unterschreiben. Unser männlicher Stolz erlaubte es uns nicht zuzugeben,
dass wir uns um unsere Gesundheit sorgten.
Einen Tag später machten wir uns auf den Weg in Richtung
der heiligen Stadt Benares. Es war eine seltsame Reise: Zuerst mit dem
Autobus, dann mit dem Zug, mit der Rikscha durch eine ausgedehnte Stadt
und dann wieder mit dem Zug. Wir betrachteten die in Mondschein
gebadeten Landschaften, die schlafenden Massen auf den Stationen, wir
hörten gedämpfte Gespräche, durch eine enge Straße führte jemand einen
riesigen, prächtig herausgeputzten Elefanten, der so leise ging wie
eine Katze. Wir wussten nicht genau, ob wir in die richtige Richtung
fuhren. Zwei nette Mädchen aus Frankreich schlossen sich uns an, doch
fühlten wir uns auch weiterhin eigenartig und ganz anders. Schon gegen
Mitternacht wusste ich, dass ich schwer erkranken würde.
In Benares nahmen wir wieder zu zweit ein Zimmer. Als ich
mich aufs Bett warf, war ich mir sicher, dass ich mit eigenen Kräften
nicht mehr würde aufstehen können. Ich wollte keine Umstände machen und
sagte Wolfgang deshalb, ich müsste ein wenig schlafen. Bald darauf
kamen die Französinnen ins Zimmer und überredeten Wolfgang, für einen
ganzen Tag ein Boot zu mieten und mit ihnen auf den Ganges zu fahren.
Zwei, drei Stunden nach ihrem Fortgang begannen sich mit mir böse Dinge zu tun.
Ein
wilder Durchfall erweckte in mir den Eindruck, als hätten mich all
meine Innereien mit dem Getöse eines Wasserfalls verlassen.(...) Wasser
lief über meine Haut. Auf dem Bett liegend spürte ich, wie es von mir
rann, durch die Matratze sickerte und gleichmäßig auf den Fußboden
tropfte. Mein Körper dampfte im Fieber so stark, dass aus dem
Nachbarzimmer ein in hellblaue Seidengewänder gekleideter Herr kam und
forderte, dass ich endlich aufhören sollte zu kochen, denn in der Luft
sei so viel Dampf, dass man nicht mehr atmen könne.
Das Grauen packte mich. Mit dem Rest meiner Kräfte rollte
ich mich vom Bett und ging zusammengekrümmt auf die Suche nach
Hilfe.(...)
Die Straßen der heiligen Stadt Benares, noch kränker und
ausgebrannter als ich selbst, begrüßten mich mit einer Menge von
Bettlern, Rikschafahrern und Händlern. Beim Gehen stolperte ich über
menschliche Körper, die jeden Augenblick ihren Geist aufgeben mochten.
Ich versuchte die Hände der mich am Hemd ziehenden Rikschafahrer
abzuschütteln. Mit Kopfschütteln wies ich die Angebote von Verkäufern
und Mittelsleuten ab. Als ich sagte, dass ich einen Arzt suche,
drängten sie sich noch stärker herbei. Sie meinten, mich zu einem sehr
guten Arzt führen zu wollen, doch war klar, dass sie mich eher zu ihrem
Schwager bringen würden, der Seidentücher herstellt, zu ihrem Onkel,
der Weihrauch verkauft, oder ins nächste Geschäft, dessen Besitzer ihm
eine Provision für das Anschleppen von Touristen gibt. Ich war so
schwach, dass ich Angst hatte, sie würden mich zerreißen.(...) So
kehrte ich nach fünfzehn Minuten in mein feuchtes Bett zurück.
Unterwegs hatte ich in einen Spiegel geblickt. Ich sah
einen hautbedeckten Schädel, Lichtlein tief in den Augenhöhlen und
Gruben an den Schläfen, in die sicher Walnüsse gepasst hätten.
Ich zitterte – völlig allein gelassen, verzweifelt und
sicher, noch an diesem Tag zu sterben. Kampfbereitschaft und Würde
verließen mich. Zunächst wollte ich noch meine Verlobte sehen, aber
dann wollte ich nur mehr zu Mama. Ich phantasierte und hatte den
Eindruck, dass die Zeit einmal langsamer, dann wieder schneller würde.
Am späten Abend kam Wolfgang zurück. Er trat vorsichtig
ins Zimmer, und da er dachte, dass ich schliefe, begann er sich leise
auszuziehen. Plötzlich hielt er reglos inne und musterte mich. Als ich
die Augen öffnete, setzte er sich auf den Rand meines Bettes.
– Dir scheint es ja ziemlich elend zu gehen. Hast du Durchfall?
Ich nickte und er sagte:
– Warte mal, wir versuchen das hinzukriegen...
Er
nahm seinen Rucksack und lehnte ihn an die Füße meines Bettes. Der
Rucksack war schmutzig und klobig, wie jeder Rucksack der damaligen
Hippie-Weltreisenden, doch Wolfgang war ein deutscher Hippie. Aus dem
Rucksackinneren holte er sorgfältig eingepackte Säckchen und Täschchen
mit Nähzeug, Kosmetika, Schreib- und Zeichenbedarf, Besteck und
Büchsenöffnern, Verbandmaterial, Brand- und Insektensalben hervor, bis
er sich schließlich zu den Medikamenten durchgewühlt hatte. Auf offener
Hand gab er mit zwei weiß-grüne Kapseln.
– Das ist ein sehr starkes Mittel. Es muss dich auf die Beine bringen. Es muss, denn mehr habe ich nicht.
Tatsächlich. Es war ein starkes Mittel.
Am
nächsten Tag troff es nicht mehr von mir und einen weiteren Tag danach
bestieg ich den Zug und fuhr nach Kalkutta, um im polnischen Konsulat
ärztliche Hilfe zu suchen.
Als ich mich von Wolfgang trennte, tauschten wir Adressen
aus und versprachen, uns gegenseitig zu besuchen. Meine Reise durch
Indien dauerte noch fünf Wochen und Wolfgangs Adresse verlor ich
irgendwo. Ich vergaß sogar, wie er mit Nachnamen hieß.
Drei Jahre später war ich in Heidelberg. Ich fand den
Sitz des Malerverbandes und fragte nach einem Künstler namens Wolfgang.
Ein nettes Fräulein erklärte mir, dass der Abteilung des Verbandes
ungefähr fünftausend Künstler angehören, von denen sicher einige
hundert Wolfgang heißen. Ich dankte höflich für die Erläuterungen und
ging.
Wolfgang – vielleicht verdanke ich es Dir, dass ich diese
Zeilen schreiben kann. Die Welt ist klein und sicher werden wir uns
irgendwann treffen. Du wirst mir dann unbedingt sagen müssen, wie die
weiß-grünen Tabletten heißen, denn das ist ein wirklich ausgezeichnetes
Mittel.
Es waren also gute Erfahrungen... Aber nicht nur.
Jeder Mensch ist ein Geflecht des Biologischen, der Traditionen und der
aktuellen Umstände. Irgendwann ist in der Begegnung zweier Vertreter
unterschiedlicher Nationen ein Kultur-Crash unvermeidlich. Mein
Kultur-Crash vollzog sich auf der familiären Ebene. Noch als Schüler
lernte ich ein Mädchen aus Ost-Berlin kennen, das ich nach dem Studium
heiratete. Ihr Vater war ein waschechter Preuße. Arbeitsam,
zielstrebig, stark und erfolgreich, erweckte er in mir den Eindruck ein
Mensch, zu sein, den es überhaupt nicht geben dürfte. Er verkörperte
die Werte, die der preußischen Alltagskultur zur Grunde lagen, die aber
in der polnischen Kultur nur eine Randrolle spielten. Da er mit mir nie
auf eine „polnische“ Weise privat wurde, nannte ich ihn im Stillen „den
Professor“.
Im Rahmen der moralischen Untermauerung
erzählte mir der Professor seinen Lebenslauf. Mit der Zeit wusste ich,
wann die Erzählung fällig war, denn es hatte sich langsam ein
deutliches Ritual herausgebildet. Meistens war es beim Frühstück am
zweiten Tag meines Aufenthaltes in Berlin. Insgesamt habe ich mir
seinen Lebenslauf mindestens 50 Mal angehört. Der Hinführung auf das
richtige Gleis dienten zudem die beiden Lebensweisheiten des
Professors: „Das Leben ist ein Kampf“ sowie „Jeder ist seines eigenen
Glückes Schmied“.
Dieser Kampf als Lebensgrundsatz kam mir in der deutschen
Wirklichkeit lange Jahre hindurch überaus exotisch vor, aber zugleich
auch als etwas, womit ich die Deutschen unwiderruflich assoziierte. Die
Polen kämpfen nur bei ganz besonderen Gelegenheiten, mit großen und
entfernten Feinden – wie Eindringlingen, Fremden, Gesellschaftssystemen
oder der Staatsgewalt. Für gewöhnlich aber hängen sie aneinander,
zelebrieren es, nett, sympathisch, solidarisch oder hilfreich zu sein.
Sie schämen sich ihrer eigenen Schwäche nicht und leben sie öffentlich
aus, sprechen über sie und ergötzen sich manchmal sogar an ihr. Auch in
wissenschaftlichen Kreisen wird Schwäche nicht als Sünde angesehen,
ganz im Gegenteil – im Verein mit wissenschaftlicher Perfektion
verleiht sie ein letztes Maß an Sensibilität und Subtilität und
versieht die von ihr betroffene Person mit einem tieferen menschlichen
Zug. In der Familie Weber dagegen – und in der gesamten kulturellen
Landschaft, wie sie sich mir nach dem Überschreiten der polnischen
Grenze präsentierte – galt Schwäche als die Mutter aller Laster und war
etwas, wozu man sich nicht bekennen durfte. Alles Vermeiden von
Schwierigkeiten, alles Aufgeben vor den Umständen, alles Wählen eines
leichteren an Stelle eines schwierigeren Wegs hatte in den
Vorstellungen über ein würdiges Leben keinen Platz. (...)
Als ich im Hause der Webers auftauchte, wurde ich sofort
von einem Schuldgefühl heimgesucht. Zwar war ich in meiner eigenen
Auffassung ein durchaus fleißiger und zu Entbehrungen neigender Mensch,
doch hier fühlte ich mich plötzlich wie ein apathischer Fleischsack,
dessen einzige Aufgabe es war, sich voll zu fressen und zu schlafen, in
dem die Lebensenergie auf schwächlicher und blasser Flamme brannte. Um
mich war die stets mit häuslichen Angelegenheiten beschäftigte
Schwiegermutter sowie meine zu immer neuen Abenteuern aufgelegte
Verlobte. Neben mir auf dem Sofa saß der Professor, erzählte mir seinen
Lebenslauf und stellte tiefgründige Fragen, auf die ich mich nicht
konzentrieren konnte, weil ich durch die Haut hindurch spürte, dass
sich im Inneren dieser Menschen Stahlfedern spannten, die sie zu
ständigem Handeln und Denken anhielten, und die aus ihrer kumulierten
Energie eine Pflicht machten, der auch ich unterlag.
Doppelt belastet, durch die sowohl angeborene als auch
eingeprägte Weichheit, hatte ich die Gelegenheit, mich an eigenem Leib
Hunderte von Malen zu überzeugen, wie fatal das Zusammentreffen von
harten und weichen Tugenden ist. Anfangs war ich mir über nichts klar;
einige Jahre lang war ich davon überzeugt, einem raffinierten Gewaltakt
anheim zu fallen.
Beinahe von unserer ersten Begegnung an zog mich
Professor Weber in Diskussionen. Dass er mir die Themen aufzwang (zum
Beispiel: die Atmung der Pflanzen, das Erscheinen von Schachtelfarnen
im Devon und ihr plötzliches Verschwinden im Karbon, zwei Versionen des
Versteinerungsprozesses von Pflanzen – durch Kristallisierung des
Gewebes oder durch das Eindringen mineralischer Substanzen in Hohlräume
u.ä.) war noch zu ertragen. Etwas schlimmer war es mit der Dialogform.
Der Professor ließ es nicht zu, dass ich mich passiv verhielt, mit dem
Kopf nickte und eine interessierte Miene aufsetzte. Er forderte eine
aktive Beteiligung, die darauf beruhte, solche Fragen zu stellen, die
den unlogischen, vertrackten und dialektischen Charakter der in der
Natur ablaufenden Prozesse verdeutlichten. Am Anfang dachte ich naiv,
dass ich mich mit meiner unvollständigen Sprachkenntnis schützen
könnte. „Du hat sehr wohl verstanden. Formuliere bitte das Problem und
gib eine mögliche Antwort!“ – entgegnete der Professor, so dass ich
beinahe losgeheult hätte. Am schlimmsten aber war das
Konstruktionsprinzip ausnahmslos aller Gedanken, die der Professor von
sich gab: Sie waren vielschichtig, hatten wohlverborgene
Doppelsinnigkeiten sowie eine scharfe polemische Spitze, die ständig
auf meinen Stolz, mein Herz und meinen Ehrgeiz zielte. Ich kann mich an
so ein Beispiel aus einer nicht naturwissenschaftlichen Diskussion
erinnern. Bei Tisch kamen wir auf die feindselige Einstellung der
Bewohner Osteuropas gegenüber den Schwarzen zu sprechen. Meine Frau
sagte etwas, die Schwiegermutter erzählte etwas und am Ende brachte
auch ich meinen Standpunkt vor. Dann meldete sich mit ganz leisem und
gleichgültigem, durch und durch wissenschaftlichem Ton der Professor zu
Wort: „Ich denke, dass die Abneigung gegen Menschen mit schwarzer
Hautfarbe auf die durch den mittelalterlichen Katholizismus verbreitete
Symbolik des Teufels zurückzuführen ist.“ Und so fand sich in einem
Satz eine ganze Assoziationskette,
Mittelalter–Finsternis–Katholizismus, mit dem Hintergedanken an Polen.
Alles das war mit einer schmerzhaften Nadel gespickt und nicht
abzuwehren, denn von Polen war ja keine Rede gewesen und den
Beziehungen zwischen dem Katholizismus und dem Mittelalter, zwischen
Mittelalter, Teufel und schwarzer Haut konnte man sich nicht
entgegenstellen.
Mit der Zeit geriet ich in eine Neurose. Wenn ich den
Professor traf, schwitzten mir die Hände, mein Verstand suchte das
Weite und Empörung quoll in mir auf. Daran gewöhnt, dass ein privates
wie wissenschaftliches Gespräch Gemeinsamkeiten sucht, emotionale und
geistige Bindungen festigt, die Intimsphäre nicht berührt und nicht die
eigene Neugierde, sondern jene des Gesprächspartners befriedigt, fühlte
ich mich vergewaltigt und erniedrigt. Und zudem hatte niemand
Verständnis... Als ich mich bei meiner Frau beklagte, quittierte sie
meine Klagen so: „Aus dir spricht ein junges Männchen, das sich gegen
die Position eines älteren Männchens in der Herde auflehnt.“ Und meine
Bekannten sahen mich verwundert an: „Na, du bist ja wohl
überempfindlich, das ist doch ein so sensibler und ruhiger älterer
Herr...“.
Einige lange Jahre wartete ich ab. Schließlich sahen wir
uns im Schnitt einmal alle zwei Monate für zwei oder drei Tage. Doch
eines Tages erschöpfte sich meine Geduld und es kam zum offenen
Aufstand. Ich sagte dem Professor rundheraus, dass ich keine Lust
hätte, über versteinerte Pflanzen und die Dialektik der Natur zu
diskutieren, dass ich andere Interessen und abweichende Meinungen hätte
und dass ich meine Überlegungen eigenverantwortlich vornähme; wenn ich
mit ihm diskutieren wolle, so würde ich mich selbst an ihn wenden.
Was darauf folgte, überraschte mich völlig. Der
Professor, der die schlimmsten beruflichen Konflikte mit Fassung ertrug
und sich selbst dann nicht beschwerte, wenn ihm die Magensäure die
Lippen auslaugte, empfand meine Worte als einen Hieb, der ihn schwer
verwundete. Er verstummte, zog sich zurück, erlosch und litt einige
Tage lang ganz offensichtlich! Ich begriff, dass er es nicht darauf
abgesehen hatte, mich zu erniedrigen, sondern ganz im Gegenteil! Vor
Fremden konnte er seine sanfte Höflichkeit bewahren, doch vor mir, der
ich fast so etwas wie sein Sohn war, öffnete er sein Herz. Und es war
schließlich nicht seine Schuld, dass es in diesem Herzen statt
Zärtlichkeit und sentimentalen Gefühlen nur Kanten, Klingen, sich
aneinander reibende Härten gab, statt liebevoller Begriffe Bereitschaft
zum Gefecht, statt freundlichem Umgang harten Kampf! Wie wäre er
glücklich gewesen, wenn ich mich unaufhörlich mit ihm gemessen hätte,
wenn ein Argument das andere entkräftet, ich eigene Themen entwickelt
hätte, wenn ich auf unverständliche deutsche Fragen mit
unverständlichen englischen Fragen geantwortet hätte – und ein
prächtiger Lebenslauf hätte sich mit einem noch prächtigeren
gemessen...
Im Angesicht von Härte reagiert Weichheit mit Angst,
Härte angesichts von Weichheit mit Verachtung. Ich überwand meine
Angst. Der Professor war nicht in der Lage, seine Verachtung zu
überwinden.
Ich verschloss mich, beschränkte mich auf wohldosierte
Nettigkeiten und Gespräche über das Wetter und beobachtete, wie in den
Augen des Professors – und zwangsläufig der ganzen Familie Weber – der
Wert meiner Person sank. Als klar wurde, dass ich aus unerfindlichen
Gründen nicht mehr zugänglich war und im Alter von 31 Jahren kein
Professor werden würde, als ich damit den Kanon der Wohlanständigkeit
brach, nahm die Überzeugung überhand, ich sei nicht viel wert. Zuerst
waren es sorgenvolle Blicke sowie bedeutsame Seufzer, dann in meiner
Anwesenheit geführte Gespräche über Personen, die mit ihrer
Habilitationsarbeit nicht innerhalb der Zeit fertiggeworden waren. Am
Ende schrieb man mich auf die Verlustseite. Die Zäsur war eine
sentenziöse Bemerkung des Professors bei Tisch: „Was soll’s, es gibt
Leute, die mit der Erlangung des Magister- oder Doktorgrades die Grenze
ihrer Möglichkeiten erreichen!“ Von diesem Moment an litt ich aus einem
neuen Grund, obwohl diese Lage auch ihre gute Seite hatte. So wie sich
Kleopatra im Beisein von Sklaven auszog und sie nicht als Menschen
ansah, so begannen sich auch die Schwiegereltern in meiner Anwesenheit
weitaus weniger unverblümt zu verhalten.
Dieses geteilte Bild meiner Person erlebte ich stark: In
Warschau, wo meine wissenschaftliche Karriere vorschriftsmäßig verlief,
wurde ich von Wissenschaftlern und Studenten immer höher geschätzt,
während in Berlin etwas immer Kleineres aus dem Zug ausstieg, bis am
Ende zu den Treffen mit den Schwiegereltern nur mehr ein Paar mit einem
Hut bedeckte Schuhe antrippelten.
Diese Erfahrung zwang mich zu ernsten Überlegungen. Was
ich für universale Menschlichkeit gehalten hatte, schien nur auf einige
kulturelle Kreise beschränkt zu sein. Wenn man demnach in sich volle
Menschlichkeit entwickeln will, so muss man sich auf Werte stützen, die
es in der eigenen Kultur nicht gibt. Ich begann nun mit anderen Augen
auch auf Polen und die Polen zu sehen. Es wurde mir klar, dass viele
Misserfolge in der Wirtschaft, der Kunst, der Wissenschaft, ja selbst
im Sport nicht durch das Einwirken äußerer Kräfte entstehen, sondern
durch das Fehlen harter, vitaler Wertvorstellungen und Tugenden der
persönlichen Perfektion bedingt sind. Was noch schlimmer ist und was
die Mutter aller Dinge ist: Die Zivilisation des Westens belohnt
niemanden, der am Rande sein sanftes Lied singen möchte. Wer wie wir
mit einem schwachen Willen ausgestattet ist und es nicht versteht, ihn
weder anderen noch sich selbst aufzuzwingen, wer seinen eigenen Körper
nicht beherrscht, wer schlechten Gewohnheiten und nicht erfüllbaren
Sehnsüchten nachhängt; wer wie wir überempfindlich auf Schmerz reagiert
und leicht ermüdet, wer den idealen Inhalt schätzt, die äußere Form
aber vernachlässigt (das betrifft die Umgebung und uns selbst), der hat
nur geringe Chancen, zur Zivilisation von Technologie und Wohlstand
aufzuschließen. Ganz Polen konnte ich nicht erlösen, aber ich habe
begonnen an mir selbst zu arbeiten.
Und dann noch die Weltgeschichte und in Zusammenhang mit
ihr mein persönliches Leben, diese Abfolge von Purzelbäumen. Die DDR
hörte auf zu bestehen, die westdeutsche Walze rollte über sie hinweg
und drückte ohne Unterschied die ganze obere Gesellschaftsschicht in
Armut und Erniedrigung. Professor Weber ist dazu gezwungen, um die
Besetzung seines eigenen Lehrstuhls zu kämpfen und ist nicht einmal
sicher, ob er nicht gegen einen jungen Westdeutschen verliert.
Ich dagegen klettere die Karrieresprossen einer neuen
deutschen Universität empor, denn ich weiß meinen Wert bereits zu
unterstreichen, hart zu sein, tägliche Kämpfe auszufechten und 14
Stunden täglich zu arbeiten. Es gab eben auch in mir eine Stahlfeder,
man musste sie nur reinigen und spannen.
Lieber Papa, ich habe gelernt hart zu sein. Aber hast Du
auch gelernt, für ein so zartes Rätsel sensibel zu werden, wie ein
anderer Mensch es ist?
Der Wandel der Identitäten... Wenn ein gemeinsames
Europa entstehen soll, dann müssen alle ein Stück ihrer Identität
abgeben. Natürlich nur so viel, wie nötig. Das Nötige sind die Kanten,
die beim Entwickeln gemeinsamer Verhaltensregeln stören und die über
die Grenzen der gemeinsamen Wertvorstellungen hinausragen. Es ist ein
langjähriger und manchmal schmerzhafter Prozess. Es gibt aber
Aussichten auf Erfolg. Die Menschen sind wie Steine: wenn man sie lange
genug in der Mühle der sozialen, politischen, kulturellen und
wirtschaftlichen Kontakte mahlt, verlieren sie ihre Kanten, passen sich
aneinander an, werden rund und geschmeidig. Der übrigbleibende Staub
wird vom Wind der Geschichte verweht, setzt sich in historischen
Büchern ab. Und die Strapazen des Prozesses werden zur... Anekdote.
Am
Ende noch etwas, das eine enge Beziehung zum Willen aufweist, der ja
von Werten der Kultur und vom Alltagsleben geprägt ist – das
morgendliche Aufstehen. Wer nicht gemeinsam mit den Deutschen
frühmorgens aufgestanden ist, wird sie niemals verstehen.
Ich habe einmal die Ergebnisse ernstzunehmender
soziologischer Forschungen gelesen, aus denen hervorging, dass die
Westdeutschen morgens von allen Nationen, aus denen seinerzeit (in der
Mitte der achtziger Jahre) die Europäische Gemeinschaft bestand, am
frühesten aufstehen. Wenn ich mich richtig erinnere, standen die
Spanier am spätesten auf – eine ganze Stunde und vier Minuten später
als die Deutschen. Die Vermischung von West- und Ostdeutschen nach der
Wende hat gezeigt, dass die letzteren den Arbeitstag gerne noch früher
beginnen. Das war für mich keine Überraschung.
Viele Jahre lang bin ich mit dem Zug in die DDR gefahren.
Der Zug überquerte die Grenze um sechs Uhr morgens. Auf den Bahnsteigen
der letzten polnischen Stationen waren die ersten Polen zu sehen, die
sich auf den Weg zur Arbeit machten. Aber es waren wenige, sie waren
nicht ausgeschlafen, auf ihren Gesichtern zeichnete sich das Leid
dieser frühen Stunde ab und mit ihrem ganzen Verhalten gaben sie der
Gewalt Ausdruck, die eine soziale Ordnung einem ruhe- und
wärmebedürftigen Individuum antun kann. Auf der anderen Seite der
Grenze war das Bild grundverschieden: Die Bahnsteige voller nüchterner,
gewaschener und gekämmter Menschen mit Minen, wie man sie in Polen erst
gegen Mittag aufzusetzen pflegt. Morgenstund hat Gold im Mund.
Wenn ich mitten in der Nacht aufwache – das heißt gegen
sechs –, höre ich auf dem Parkplatz vor dem Haus das Aufheulen
anspringender Motoren. Die Belegschaft der Universität, an der ich
arbeite, erscheint ein paar Minuten nach sieben Uhr zur Arbeit,
spätestens um acht ist jeder da.
All diese Dinge sind für mich unfassbar. Ich weiß, dass
man in vielen Institutionen zwischen sieben und neun Uhr mit der Arbeit
beginnen kann. In Frankreich kämen alle so spät wie möglich. Die
Deutschen treibt eine unbekannte Gravitationskraft zum frühestmöglichen
Zeitpunkt an den Arbeitsplatz, wenn die Eingangspforten gerade
aufgeschlossen werden. Frage ich, warum sie so früh kommen, höre ich
immer: „um früher fertig zu werden“. Das ist ein nur scheinbar
rationales, im Grunde aber heuchlerisches Argument. Um nämlich zwischen
fünf und sechs Uhr aufzustehen, legen sie sich um neun oder zehn Uhr
schlafen. Ich bin letztmals um zehn Uhr schlafen gegangen, als ich
zwölf Jahre alt war.
Die Verlagerung der Aktivität in die frühen Morgenstunden
macht den Tag kein bisschen länger und nimmt einem lediglich viele
Annehmlichkeiten: Aufzustehen, wenn es schon hell ist, die Intimität
des Abends, Gespräche bis tief in die Nacht, das sündhafte Leben beim
Licht der Laternen. In Ostdeutschland sind die Städte abends dagegen
ausgestorben, obwohl es Geld und Mittel gäbe, sie zu beleben. In
Westdeutschland gibt es natürlich ein Nachtleben, doch nicht die
Stützen der Gesellschaft – Beamte, Manager, Arbeiter – geben hier den
Ton an.
Das morgendliche Aufstehen bringt also keinerlei Nutzen.
Dennoch wird es so massenhaft praktiziert, dass sich dahinter eine
positive Erfahrung körperlicher Natur verbergen muss, ganz so wie
hinter Besitz, Liebe oder Machtausübung.
In seinem Buch „Die Flucht vor der Freiheit“ hat Erich
Fromm das Phänomen des Faschismus in psychoanalytischen Kategorien
analysiert. Er behauptet, dass die bürgerlichen Massen seinerzeit der
Herrschaft eines sadomasochistischen Triebs erlagen. Der Masochismus
war ihm zufolge gleichbedeutend mit Führerkult, der Sadismus mit Macht
und mit der Jagd auf einzelne Gruppen der Gesellschaft. Diese
Interpretation hat mir nie gefallen. Die von ihm verwendeten Termini
suggerierten eine Perversität und eine daraus herrührende Befriedigung,
während Führerkult und innergesellschaftliche Aggressionen so weithin
verbreitet sind, dass man eigentlich allen Menschen eine verrenkte
Libido nachsagen könnte. Las ich das Buch mit Studenten, so überging
ich diese Passagen.
Wenn ich aber über das notorische Frühaufstehen
nachdenke, so kommt mir dieser unglückliche Masochismus unweigerlich in
den Sinn. Einen wohlig schlafenden Körper aus dem Bett zu ziehen, an
einem wehrlosen Sack zu zerren, der sich noch unter der Decke wärmen
möchte, ihn in die Morgenfrische zu werfen – das übersteigt nicht nur
den Wunsch nach einer guten Einteilung des Tags, sondern sogar das
Gefühl, einer Pflicht nachgekommen zu sein. Dahinter muss sich eine
unbewusste Annehmlichkeit verbergen. Eine Freude an der Herrschaft über
den eigenen Körper, die der Freude am Sport, am Bergsteigen, an
schwerer Arbeit ähnlich ist. Den Tag mit einer wonnevollen Tat zu
beginnen, mit der Tat des Aufstehens – was könnte einen strengen
Vitalismus besser bekunden als dies?
Dieser strenge Vitalismus gehört sicher zur Palette der
grundlegenden menschlichen Werte. Ich ziehe mir diese Maske aber gar
nicht mehr über. Ich bin in der slawisch-mediterranen Trägheit
aufgewachsen und die Atome meines Körpers lassen sich nicht mehr auf
lebendigere Gleise umlenken. Meine Kinder aber haben dieses
Frühaufstehen übernommen und können gar nicht mehr anders.
Neben dem zivilisatorischen Nutzen hat das Frühaufstehen
auch noch einen metaphyisch-theologischen Nutzen. Das jüngste Gericht
beginnt mit Sicherheit um vier Uhr morgens. Natürlich werden die
Deutschen als erste in der Schlange stehen, mit Handgepäck ohne
Übergewicht und vollständigen Papieren. Der verschlafene Herrgott
brummelt ein wenig und lässt sie dann in den Himmel, denn um vier Uhr
will schließlich noch niemand radikale Entscheidungen treffen. Die
Deutschen belegen natürlich die besten Plätze, was dazu führt, dass die
irdischen Streitereien die ganze Ewigkeit über andauern werden. Deshalb
meine ich, dass die Idee, das Paradies sei in politischer Hinsicht
ungefährlich, nicht zu akzeptieren ist.
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