Zeitdokument | Kulturation 2012 | Dietrich Mühlberg, unveröffentlichtes Manuskript | DDR-Kulturwissenschaft 02:
Zum Verhältnis von Jugend und Erbe - ein Papier aus dem Jahre 1985 | Im
Frühjahr 1985 hielt Kurt Hager in der Akademie der Künste einen Vortrag
zum Thema "Jugend und Erbe"; er fiel in der damals sattsam bekannten
Art aus: den Jugendlichen seien die großen kulturellen Werte etc.
nahezubringen. Mit der Vorbereitung war die ZK-Abteilung Wissenschaft
beauftragt, die sich 1984 u.a. an den Wissenschaftsbereich Kultur der
HUB wendete, seine Vorstellungen zu diesem Thema mitzuteilen. Nach
Beratung mit Herbert Pietsch und Thomas Koch, die umfangreiche Skizzen
zum Thema vorgelegt hatten, habe ich einen thesenartigen Text abgefaßt
und im März abgeschickt; eine Reaktion hat es nicht gegeben. Dieser
Textwurde leicht überarbeitet und als internes Material im Herbst 1985
zur Vorbereitung einer Diskussion (Versammlung des
Wissenschaftsbereichs Kultur am 4. November 1985) über das eigene
"Erbe-Verständnis" unter den KollegInnen verteilt. Es handelt sich also
um ein internes Papier; die Ausführungen sind skizzenhaft und waren für
einen bestimmten Zweck gedacht: Versuch einer kritischen Einflußnahme
auf kulturpolitische Rahmenbedingungen der praktischen Seite eigener
kulturgeschichtlicher Forschung und Lehre. Dietrich Mühlberg
Unmittelbarer Anlaß für ein kritisches Überdenken unseres
Verhältnisses zum Erbe sind Darstellungsprobleme der Kulturgeschichte.
Doch dieser Gegenstand ist von allgemeinem kulturwissenschaftlichem
Interesse, gründet sich doch jede kulturelle Wertung auf ein
spezifisches Traditionsverständnis, auf eine besondere Bindung an "das
Erbe". Jugend kommt ins Spiel, weil sie als Nachfolgegeneration durch
ihr Kulturverständnis, durch ihren kulturellen Habitus darüber
entscheidet, wie das, was wir als Erbe ansehen, künftig behandelt wird.
Das vielleicht abzusehende Verhältnis Jugendlicher zum Überkommenen ist
darum ein Indikator für kulturelle Trends und Ausdruck kultureller
Entwicklungsfähigkeit der Gesellschaft.
Gerade dieser Beziehung sollten wir größere Aufmerksamkeit schenken
und eine Art "Bestandsaufnahme" anstreben. Denn das (sicher meist
unausgesprochene) Ziel unserer wissenschaftliche Arbeit ist es ja,
Traditionsverhalten mitzubestimmen oder wenigstens zu beeinflussen.
Denn wir wissen ja aus der Geschichte, in welchem Maße die Arbeit der
(Kultur)historiker nationales Selbstwertgefühl zu beeinflussen
vermochte. Dabei ist der Adressat (schon durch unsere universitäre
Anbindung) unserer Lehren immer die Nachfolgegeneration. Überdies haben
wir auch den allgemeineren kulturpolitischen Auftrag angenommen, an der
"Pflege unseres Erbes" mitzuwirken. All dies verlangt von uns eine
Verständigung über die Mechanismen dieses Vorgangs, über den
gegenwärtigen Stand der Dinge, seine historisch-kritische Beurteilung
und auch Ableitungen für ein erfolgversprechendes Einwirken auf
kulturelle Institutionen unserer Gesellschaft.
Nähern wir uns dem angefragten Verhältnis, so fällt zunächst auf,
daß die Beziehung zum "eigenen Erbe" der DDR-Gesellschaft schwach
entwickelt ist, es kaum ein Verständnis für die positiven und negativen
Besonderheiten der eigenen geschichtlichen Situation gibt. Solch
Unverständnis ist verschieden zwischen Oben und Unten, zwischen den
sozialen Gruppen, doch als Grundzug ist es allgemein. So ist eine ganze
Reihe von sozial-kulturellen Tatbeständen wenig reflektiert. Etwa der
überaus hohe Grad der Politisierung aller Schichten (die ja für alles
Wichtige immer zwei Interpretation bekommen, die ständig mit einer
realdeutschen Alternative zur eigenen Lebenslage konfrontiert sind, für
die darum alles Gewöhnliche blitzschnell zu Politikum werden kann),
oder das beinahe völlige Fehlen von Nationalismus (wie soll er in
dieser spezifischen deutsch-deutschen Konfrontation gedeihen?) und von
Rassismus (für den die Anlässe selten und die Äußerungsmöglichkeiten
gering geworden sind). Nennen möchte ich den wahrscheinlich höchsten
Grad heute erreichbarer sozialer Sicherheit des einzelnen auf einem
relativ hohen Niveau des Lebensstandards und bei sehr geringem sozialen
Gefälle (klarsichtige Kollegen meinen, daß die Gleichheit schon zu weit
getrieben worden sei), die in rechtlicher und ökonomischer Hinsicht
wohl konsequenteste Gleichstellung der Frau (selbst wenn zu fragen ist,
was daraus bislang kulturell gemacht worden ist). Ich will die
Aufzählung nicht fortsetzen, jeder könnte dem aus seinem Arbeitsfelde
noch einiges hinzufügen: von höchster Scheidungsrate über die
Alkoholisierung bis zur auffällig ausgeprägten Arbeitswütigkeit. Und an
dieser Arbeitsorientierung macht sich auch das Fremdbild des
(Ost)deutschen fest: Ordnung, Disziplin und Arbeit. Von den anderen
freilich eher negativ, mindestens distanziert gesehen (worin ja der
Sinn nationaler Abgrenzungen besteht) - für uns aber weitgehend positiv
besetzt.
Allerdings: die Reflexionen über "nationales Selbstverständnis"
sind rar (geschuldet der besonderen "nationalen Lage" der Deutschen).
Damit aber fehlt im politischen und im wissenschaftlichen Bewußtsein,
was in den Künsten gelegentlich ausgesprochen wird: die Kenntnis der
bedauerlichen bis riskanten Leerstellen und Brüche in der kulturellen
Tradition. Mit den folgenden Notizen (zu denen Herbert Pietsch und
Thomas Koch beigetragen haben) möchte ich darauf aufmerksam machen und
die Diskussion anregen. Es werden Eindrücke aufgelistet, nach den
Ursachen wird nicht gefragt (obwohl in einigen Fällen die Antworten auf
der Hand liegen).
Zunächst sei an Selbstverständlichkeiten erinnert. Was wir als
"Erbepflege" verstehen, ist eine Form der Traditionsbildung. In diesen
Vorgang sind unterschiedliche soziale Kräfte verwickelt. Er erhält
seine Dynamik auch dadurch, daß jede Generation eine eigene Beziehung
zur Geschichte ausbildet, vornehmlich an ihrem Verhältnis zum
Überkommenen. Das geschieht in allen Bereichen des alltäglichen Lebens
junger Leute. Es ist dies ein teils aktiv-suchendes, teils ein
passiv-unbewußtes Verhalten, das durch die Erbepflege der Gesellschaft
und das Traditionsbewußtsein der jeweiligen sozialen Umgebung
mitbestimmt und beeinflußt wird. Allerdings ist - gemessen am Aufwand -
der tatsächliche Einfluß der "Erbe-Pfleger" erstaunlich gering.
Eine der Ursachen dafür ist in der Enge des Erbe-Begriffs zu
suchen. Er bezieht sich nur auf bestimmte Bereiche ausschließlich der
"geistigen Kultur" (und wählt daraus nach marxistisch-leninistischen
Grundsätzen und praktischen politischen Erfordernissen jeweils aus).
Dabei wird der überwiegende Teil dessen, was real als das Erbe unseres
Volkes anzusehen ist, schon vom Ansatz her ausgeschlossen. Damit meine
ich einerseits fast die gesamte gegenständliche Umwelt, die politisch
"erobert" wurde und als Lebensbedingung genutzt wird: die Fabriken, die
Landschaften, die Stadtkultur, die Siedlungsformen, Fassaden, Bäume
usw. usw. Dies alles wird von Politikern, Ökonomen, Technikern und von
den Leuten nicht als ein "kulturelles Gut" angesehen und entsprechend
behandelt. Wir finden kaum etwas, an dem entsprechendes Pflegeverhalten
symbolisch betrieben wird. Wer aus dem Westen kommt, wo vieles davon
als Privateigentum gehegt und gepflegt wird, erlebt es als Schock:
alles wird zunächst als schmutzig, ungepflegt, verkommen und notdürftig
erhalten wahrgenommen. Intellektuelle Alternative des Westens finden
das sympathisch: wir kleben nicht so an den Dingen, hier fehlt die
Sterilität der gleichmäßig verputzten Fassaden usw. Arbeiter und Bauern
von dort können dies wahrscheinlich nur mit distanzierter Verwunderung
betrachten, denn so darf man mit vergegenständlichter Arbeit nicht
umgehen.
Die bei "jungen Leuten" festgestellte überhandnehmende Laxheit im
Umgang mit dem gesellschaftlichen Eigentum wird von den Kritikern auf
mangelndes Rechtsempfinden zurückgeführt. Tatsächlich dürfte dahinter
etwas anderes stehen: die DDR-Gesellschaft hat in dem für alle
sichtbaren Bereich des überkommenen "gegenständlichen Reichtums" kein
hinreichend demonstratives (symbolisches) Pflegeverhalten ausgebildet.
Ansätze dazu ("Kultur der Arbeit", Umweltschutz etwa) wurden teils
falschen Verantwortlichen übertragen oder scheiterten an ökonomischen
Notwendigkeiten.
Doch nicht nur die ganze dingliche Welt bleibt im "Erbe-Konzept"
unberücksichtigt. Schon vom Ansatz her ist auch die im Volke lebende
Überlieferung ausgeschlossen, das Wissen über unser Herkommen, die
Bräuche, Sitten und Gewohnheiten im Umgang mit den Menschen, mit den
Dingen, mit den "Kulturtechniken". Die spezifische Auswahl aus dem
Bestand nur der geistigen Kultur beschränkt die gesellschaftliche
Traditionspflege auf das, was seit Beginn der Klassengesellschaft und
vollends seit dem 19. Jahrhundert nur noch von Spezialisten produziert
und anschließend "gepflegt" oder in der produktiven Anwendung tradiert
wird. Dafür gibt es inzwischen spezielle Institutionen. Die Folge ist,
daß sich die Erbe Vermittlung auf das beschränkt, was so
institutionalisiert wurde: bestimmte Kunstrichtungen, Künstler und
Kunstwerke, bestimmte überragende Personen, bestimmte Ideen und
Prinzipien (also: Bach und Semperoper, Bechers Gedichte und Brechts
Nachlaß, Marx und bestimmte Arbeiterführer, Luther und Friedrich II.,
Solidarität und Humanismus etc. etc.).
Das von Spezialisten (wissenschaftlich) Aufgearbeitete wird dann
"vermittelt" von Schule, Jugendverband, Armee, öffentlichen
Kultureinrichtungen, Massenmedien. Auch in diesen Institutionen ist es
häufig die Ressortangelegenheit von allerlei Spezialisten und
keinesfalls strukturell angelagert. Wofür diese Ressorts nicht
zuständig sind, wurde und wird in der DDR nicht gepflegt, verfiel,
geriet in einen unkultivierten Zustand oder wurde vergessen.
Diese Institutionalisierung ist für alle modernen Gesellschaften
charakteristisch und auch in der BRD nicht anders. Doch Erbepflege ist
dort nicht das Monopol staatlicher Institutionen oder Zuwendungen. Denn
hier wirken soziale Gruppen und Schichten weiter, die auch bei uns vor
1945 einen großen Teil der jetzt unbeachteten Kulturbereiche geprägt
haben, die einflußreiche Kulturmuster entwickelten und durch ihr Leben
und ihren öffentlichen Anspruch so oder so orientierend gewirkt haben.
Ich meine die bildungstragenden Mittelschichten. Sie sind in anderen
sozialistischen Ländern zwar weitgehend entmachtet worden, doch blieben
sie dort - im Unterschied zur DDR - doch in beträchtlichem Umfang
"personell" erhalten und anwesend und haben sich irgendwie
eingerichtet.
Zugleich wurde in der DDR darauf verzichtet, eine kulturelle
Alternative von unten zu pflegen. Auch die Traditionen in der
Lebensweise der fortgeschrittenen Arbeitergruppen blieben unbeachtet.
Nicht nur das, sie wurden sogar bekämpft. Entweder als kleinbürgerliche
Beflissenheit von Arbeiteraristokraten oder als Proletkult. So entstand
der Eindruck, als hätte die Arbeiterbewegung nichts als die Eroberung
und ständige Verteidigung der politischen Macht im Sinne gehabt. Das
ist weitab von den geselligen und hedonistischen Zügen der
tatsächlichen Lebensweise. (Und hat zur Folge, das unsere "Reichen" und
unsere Privilegierten ihren Lebensstil nicht mit demonstrativer
Selbstverständlichkeit üben können. Sie haben unterschiedliche
Rücksichten zu nehmen. Auch haben sie den Anschluß an vergleichbare
westliche Eliten verloren, das Anschauen von Dallas dürfte kein Ersatz
sein.)
Dem entspricht die ganze Art unserer institutionalisierten
Erbe-Pflege: sie ist demonstrativ, ist auf Respektabilität gerichtet,
soll Bündnispartnern und Gegnern im In- und Auslande Achtung abnötigen.
Schon deshalb beschränkt sie sich auf das, was unserer Ansicht nach den Bürgern und der politischen Klasse anderswo wertvoll ist oder sein sollte.
Auf diese Weise sind Normen und Lebensformen zerschlagen, verdrängt
oder vergessen worden, und es wurden nur für wenige Bereiche neue
"entwickelt" oder allgemein akzeptiert. Dies wird von jungen Leuten als
Verhaltensunsicherheit erlebt, als Normenchaos und Wertepluralismus.
Ein sichtbarer Ausdruck dafür ist die zu große (weil akzeptierte
Orientierungen fehlen) oder zu geringe (weil enge Wertvorstellungen
aufgedrückt werden sollen) Toleranz in allen Bereichen des
menschlichen Umgangs. Besonders Jugendliche spüren die
Unentschiedenheit in den Formen des Alltagslebens und suchen nach Halt
und Hilfe um sich zurechtzufinden.
Wir können darin eine kulturell produktive Situation sehen in der
Neues entsteht. Die DDR-Forschung des Westens ist uns da voraus, für
sie wurden Jugendkultur, Frauen und Randgruppen bevorzugte Gegenstände:
an ihnen besonders wäre der innere Wandel sozialistischer
Gesellschaften abzulesen. Hier dagegen besteht die Neigung, alle solche
Artikulationen (besonders wenn Künstler sie aufnehmen) abzudrängen,
sich nicht von solchen "Problemchen" beirren zu lassen.
Also: wir haben in wichtigen Bereichen der Erbepflege und
Traditionsbildung große Lücken. Einerseits ist das eine produktive
Situation, andererseits folgte daraus ein Mangel an elementarer
menschlicher Bildung, der in allen Schichten der DDR-Jugend zu
beobachten ist und unabhängig von der Haltung zur gesellschaftlichen
Ordnung ist (also in der Spannweite von sozial und politisch
Engagierten bis zu den Gleichgültigen und den "Aussteigern"). Solche
Leerstellen sehr ich u.a.
(1) im Umgang mit der deutschen Sprache (Wortschatz,
Stilgefühl, dialogische Fähigkeiten, sprachlicher Selbstausdruck,
Kultur der sprachlichen Kommunikation). Ein "Beststudent" der DDR ist
einem durchschnittlichen Hauptschulabgänger der BRD darin deutlich
unterlegen, man höre sich Studentenvorträge und Diskussionen an (Von
der Sprachkultur der Vorlesungen oder politischen Reden ist hier ja
nicht zu sprechen.)
2) rudimentär ausgebildet sind individueller Lebensstil und
damit zusammenhängende Umgangsformen. Es fehlt schon an elementaren
Formen der Höflichkeit, an Regeln für den Ausdruck akzeptierter
sozialer Ränge (des Alters, der sozialen Stellung usw.), an
kultivierten Formen der Distanzierung, an Respekt vor der
Selbständigkeit und Eigenart des anderen. Aus dem Alltag sind die
Erinnerungen an die aufklärerischen, humanistischen, liberalen Formen
verschwunden, die einmal für das Austragen und Bewältigen von
Konflikten entwickelt worden waren und zumindest als Ideal galten. So
gut wie gar nicht kultiviert ist die Fähigkeit zum Arrangieren von
Kommunikation und Geselligkeit. Verschwunden sind verbindliche
Tischsitten, akzeptierte Festrituale, allgemein anerkannte Formen von
Trauer und Leid. Es mag ein Vorzug sein, daß in dieser Ordnung niemand
mehr zur Freundlichkeit gezwungen ist (oder gezwungen werden kann). Die
bedauerliche Folge: es kann auch nicht mehr gelernt werden, wie man das
"macht". Dem "Westler" fällt auf, wie ruppig hier die Leute öffentlich
miteinander umgehen. Auch "unsere Alten" beklagen das. Allgemein wird
Unfreundlichkeit zur Schau gestellt. Das geht bis in die
medienvermittelte Öffentlichkeit. Während die Politiker der anderen
Seite mindestens einmal freundlich-verbindlich auf dem Bildschirm jeder
Wohnung auftauchen, sind die unseren hölzern, distanziert und spröde,
sie demonstrieren den unnahbaren Geheimnisträger. Dies nicht nur aus
politischen Prinzipien, sondern schon weil sie für ihren Beruf nie die
Elementarformen freundlicher Zuwendung einstudiert haben. Sensible
junge Leute neigen dazu, aus dieser harschen und barschen Welt
auszusteigen und in materiell anspruchslosem Lebensstil und liebevoller
Partnerschaft eine eigene Lebenswelt zu definieren.
(3) Unsicher ist unser Konsumverhalten, unser Umgang mit
den Dingen und mit der Zeit. Es gibt im Alltag keine verbindlichen
Normen dafür, "was der Mensch braucht", wie er seine Lebenszeit nutzen
sollte. Nebeneinander gedeihen primitiver Hedonismus und überspannte
Askese. Die "preußischen Tugenden" (deren Verfechter sie immer auch als
Korrektiv der Kapitalisierung verstanden haben) sind ebenso vergessen,
wie die lebensreformerisch beeinflußten Grundsätze der früheren
Arbeiterfunktionäre. In solchen gelebten Tugenden wird ja das
Verhältnis des einzelnen zur sozialen Gemeinschaft "gestaltet". Ihr
Fehlen ist eine der Ursachen für den rücksichtslosen Umgang mit der
Zeit der anderen, mit der vergegenständlichten Arbeit, mit dem
kollektiven und gesellschaftlichen Eigentum. Und besonders erstaunlich:
auch mit der eigenen Gesundheit. (Wir können ja nicht, wie es die
Amerikaner offensichtlich sind, zu einem Volk leistungsbesessener
Gesundheitsapostel werden, doch die nun erreichte Weltspitze im Saufen
ist auch kein Beleg rechten Umgangs mit den Gütern und Genüssen!) Aus
der Kulturgeschichte des Proletariats wissen wir, daß mit der
industriellen Produktion von notwendigen Dingen der Verbrauch den
früher üblichen Gebrauch verdrängt hat. Früher lag das Maß im Ensemble
der dauerhaft verfügbaren Dinge selbst. Erst der expandierende Markt
des ständig Neuen (und in den Gebrauchseigenschaften immer weiter
Spezialisierten) führte zum Unmaß. Da der Proletarier (im Unterschied
zum Groß- und Kleinbesitzer) nicht emotional an seinen Dingen hängt,
ist er (außer der Arbeit) ganz besonders leichtsinnig im Umgang mit
ihnen, ist er der typische Verbraucher, der nur durch die Normen seines
Milieus reguliert wird.
(4) Ein seltsamer Gegensatz besteht zwischen der enormen
Rolle, die die Arbeit in unserem Leben spielt (längste Arbeitszeit in
Europa, höchster Grad der Frauenerwerbstätigkeit in der Welt, Arbeit
als liebste Freizeittätigkeit) und der weitgehenden Ignoranz gegenüber
den deutschen Traditionen von Arbeitsamkeit, Fleiß, Nützlichkeit und
klar berechneter Leistung. So werden weder die durch Luther geprägte
protestantische Arbeitsethik noch die Traditionen deutschen Handwerks
gepflegt. Von den enormen Arbeitsleistungen des deutschen
Industrieproletariats und den dabei ausgebildeten Normen und
Verhaltensregeln wird gleich gar nicht gesprochen. Auch hier dürfte
mangelnde Erbepflege eine Ursache für Defizite in der Arbeitskultur
sein. Sie wiegen schwer, wenn die (kapitalistische) Leistungskonkurrenz
ausgeschaltet ist. Jugendliche Haltung der Arbeit gegenüber reicht vom
Hinnehmen eines "notwendigen Übels" bis zum Feld der
Selbstverwirklichung. Arbeit als Dienst oder gar als "heilige Pflicht"
kommt nicht vor, bestenfalls (aber auch hier stark abnehmend) in den
Bereichen mitmenschlicher Hilfe; ein schlechtes Zeichen für eine
Gesellschaft mit wachsendem Sektor sozialer Dienste.
(5) Insgesamt mangelt es an Verständnis dafür, daß alles,
was auf uns überkommen ist, vielfältige menschliche Bedeutungen trägt,
die sich nicht mit der offensichtlichen Gebrauchseigenschaft decken.
Diese an den "Dingen" haftende "kulturelle Bedeutsamkeit" wandelt sich,
verschwindet aber nicht. Jugendliche machen das bewußt, wenn sie die
Dinge anders sehen als wir (die Alten). Es wird zunehmend schwerer,
"unser" Erbe-Verständnis zu erklären. Häufig läuft das auf eine
nachträgliche ideologische Verbrämung ökonomischer (früher eher
politischer) Entscheidungen hinaus. Wenn heute gesagt werden darf, daß
(rekonstruierte) "Mietskasernen" besser als Neubauten sind, so reagiert
das nicht auf Traditionsgefühle oder respektiert überkommene
Lebensformen. Mit solchen Worten entschuldigen wir ökonomische
Erfordernisse. Daß der eigentliche Wert historisch gewachsenen Milieus
darin besteht, traditionsgeladener Lebensraum von Menschen mehrerer
Generationen zu sein, wissen Rekonstruierer und Wohnraumbewirtschafter
großenteils nicht (und können das in ihrem Job auch kaum
berücksichtigen). Ähnlich liegt das, wenn gemeint wird, mit
Straßennamen Politik zu machen. Sie sind ja selbst ein Erbe, leben
lange fort und haben alle zeitbedingten Umbenennungen überdauert,
zeigen sie doch Geburtsort und Heimat an, garantieren sichere
Orientierung (die Stadt ist ein Geflecht mir bekannter Straßen). Jede
Umbenennung provoziert emotionale Ablehnung. Wer möchte schon in einer
Jaques-Duclos-Straße oder in einer "Allee der Kosmonauten" wohnen oder
ins Kino "Sojus" gehen oder die "MZG Kalinka" besuchen?
Nach unserem heutigen Verständnis von Kultur und Kulturgeschichte
ließen sich noch weitere Leerstellen nennen. In vielen Bereichen haben
wir einen Traditionsbruch, ohne daß wir uns der Hinterlassenschaft
stellen und sie "aufheben". Das ist kein Zeichen von Stärke. Es macht
die eigenen kulturellen Lösungen schwächlich. (Erstaunlich ist, daß die
hiesige Geschichtswissenschaft mit all dem wenig zu tun hat). Nun kann
es nicht darum gehen, für alle diese Brachen "zuständige" Institutionen
zu finden. Wir müßten uns aber der Tatsache stärker bewußt sein, daß
unsere Gesellschaft in der kurzen Zeit ihres Bestehens für weite
Lebensbereiche noch keine verbindlichen und dauerhaften Kulturformen
ausgebildet hat. Hier müßten auch die historischen Wissenschaften mehr
leisten. Denn bewußte Traditionspflege ist ein erster Schritt dazu
In diese Richtung nun geht auch das Drängen vieler - ich möchte sie
so nennen - "sozial bewußter Jugendlicher", die bemerkenswert offen für
traditionalistische Gedanken und historisches Denken sind. Mich
erstaunte bei den Prüfungen des 1. Studienjahres das große Interesse an
den "alten Germanen"; die Schlacht im Teutoburger Wald kann offenbar
auch heute als ein Ereignis der nationalen Geschichte verstanden
werden, über das sich etliche freiwillig höchst umfangreich
unterrichtet haben. Wir müssen wohl nachdenken, was da in den Köpfen
vorgeht. Übrigens hat das Geschichtsstudium enormen Andrang. Ganz
offensichtlich suchen sozial bewußte Jugendliche im Überkommenen oder
Vergangenen nach den festen Grundsätzen, die sie in ihrer aktuellen
Umwelt häufig vermissen oder nicht entdecken können. Sie wollen selbst
zum Authentischen vorstoßen und sich nicht mit den Interpretationen
begnügen, wollen die Fakten und nicht die Verallgemeinerung. Viele
wollen selbst "die Wahrheit" finden und fragen mißtrauisch, ob wir
ihnen auch redlich alles das sagen, was wir wissen.
Damit korrespondieren weitere Züge im Verhalten sozial aktiver
junger Leute. Sie wollen etwas bewahren, stehen dem Wachstum und der
technisch bedingten Veränderung auch skeptisch gegenüber (auch
skeptisch, weil sie zugleich ungeduldig den Entwicklungsrückständen
gegenüber sind). Das schafft eine gewisse Sympathie für die "Grünen",
weil Natur in deren Augen der wichtigste zu bewahrende Wert ist, der
Natur gegenüber etwas geleistet werden muß und kann. Selbst bei
Ablehnung der politischen Kultur der "Grünen" (die bei Jugendlichen
sehr selten zu finden sein dürfte), bleibt doch die wachsende
Sensibilität für ökologische Fragen. In unser Erbe-Konzept wurde die
Natur erst kürzlich, noch dazu halbherzig und eklektisch eingefügt. Es
meint mehr die "gestaltete Landschaft" usw., bestenfalls die Natur als
nutzbare Lebensgrundlage, nicht aber die Natur selbst als Wert.
Aber generell ist - neben der Hinwendung zur Natur als einem zu
pflegenden Erbe - alles offiziell nicht beachtete Alte im Wert
gestiegen. Die bewahrende Haltung selbst wird gepflegt, die Objekte
sind - sofern alt - beinahe beliebig. Sie richtet sich gegen
Umweltvernichtung, Verschwendung, zivilisatorischen Verfall,
Gleichgültigkeit gegenüber dem Kleinen, Individuellen und Schutzlosen -
damit auch immer gegen Entscheidungen und Unterlassungen staatlicher
Einrichtungen. Das macht das grundsätzlich obrigkeitsdistanzierte
volkskulturelle Erbe anziehend und gibt manches Muster für solch
selbstbestimmtes Engagement von unten.
Die pflegende Haltung ist nicht abstrakt, sondern praktisch. Man
will etwas tun: Störche zählen, Kröten über die Straße tragen,
Friedhöfe erhalten, Denkmalschutz soll tätig sein, in Museen will man
etwas machen. Es gibt einige Einrichtungen, die das fördern,
großenteils sind die Kulturfunktionäre überfordert, können den
jugendlichen Elan nicht produktiv machen, wittern oder befürchten darin
Indifferentes oder antisozialistische Ideologie.
Umgekehrt zeigen Jugendliche grundsätzlich eine altersbedingte
Distanz zu all dem, was die Autoritäten pflegen. Notwendig sehen sie
darin etwas Fremdes oder wittern (häufig berechtigt) Mißbrauch zu
erzieherischen Zwecken. Wie stark diese gerichtete Distanzierung sie
selbst gerade auf das fixiert, was sie ablehnen, können sie noch nicht
wissen. Auch später werden nur wenige bemerken, daß dies die Weise ist,
in der man so wird wie die Väter. Darum konzentriert sich heute (wie
wohl immer) das Interesse Jugendlicher auf jene Bereiche des Erbes, die
nicht oder nur ungenügend in der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit sind
und ihnen Impulse, Anregungen, Aufschlüsse und vor allem Wertkriterien
verheißen:
- gewöhnlicher, alltäglicher Faschismus, Deutung seiner Ursachen,
Verstrickung der eigenen Vorfahren und der politischen Autoritäten;
- Territorialgeschichte (Preußens, Sachsens, Pommerns,
Mecklenburgs usw.) landschafts- und ortsgebundene Traditionen,
Folklore;
- Erbe der Massenkultur, vor allem der Musik (Rock und Pop seit den 50er Jahren), Alltagskultur der 50er;
- besondere technische Leistungen, deutsche Technikgeschichte
- Alltag der Vorfahren, besonders der eigenen Familie, Pflege aller überkommenen Dokumente, Bilder, Utensilien
-Geschichte der Religionen und der damit verbundenen Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Selbsterkundung
- deutsches soldatisches Heldentum (Bundeswehr gilt als amerikanisiert, NVA lehrt alte sowjetische Heldentaten gegen Deutsche)
Vor dem Hintergrund dieser Interessen werden (etwa von den
entsprechend aufmerksamen Studenten) die inhaltlichen Wandlungen der
"Erbepolitik" (im Großen wie im kulturpolitischen Alltag der Provinz)
positiv bewertet und als gewisse Bestätigung ihres zweifelnden Fragens
verstanden. Doch werden die - offiziell auch nicht sehr deutlich
ausgesprochenen - wirklichen Gründe für neue Akzentuierungen unseres
Geschichtsverständnisses häufig nicht verstanden und dahinter
politischer Pragmatismus vermutet, der zu solchen Konzessionen
veranlaßt.
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