Zeitdokument | Kulturation 2/2004 | Archiv der KulturInitiative'89 | "Kulturpolitische Gesellschaft der DDR" - Gründungsaufruf / erste Vorstellung von Arbeitsschritten | KulturInitiative’89 Historisches Dokument Nr. 4
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"Kulturpolitische Gesellschaft der DDR" - Gründungsaufruf / erste Vorstellung von Arbeitsschritten
(Entwurf von Helmut Hanke)
Die Unterzeichner rufen zur Gründung einer "Kulturpolitischen
Gesellschaft der DDR" auf. Sie bekennen sich zur demokratischen
Erneuerung der Gesellschaft, zu radikalen Veränderungen in Politik,
Wirtschaft und Kultur. Zu seiner Gesundung braucht der erkrankte
soziale Organismus eine Reform an Haupt und Gliedern; auch in der
Kultur muß Ballast abgeworfen, müssen Strukturen beseitigt werden, die
seit Jahrzehnten die freie Entwicklung des menschlichen Geistes, der
schöpferischen Fähigkeiten des Volkes, der Begabungen und Talente jedes
einzelnen Menschen behindern und verhindern. Die Fortsetzung des
sozialistischen Experiments auf deutschem Boden unter völlig
veränderten Bedingungen und mit grundlegend neuen Zielsetzungen ist ein
Gebot der Vernunft. Nur durch solidarisches Handeln aller Menschen und
ein neues Verhältnis zur Natur kann die Menschheit überleben, können
die verschiedenen Regionen des Planeten Heimat gleichberechtigter
Völker und Nationen sein.
In der DDR wird der erneuerte Sozialismus eine solidarische,
produktive Gesellschaft freier Menschen, eine alternative Zivilisation
und Kultur sein - oder er wird nicht sein. Die Nutzung aller
Errungenschaften und Leistungen des bürgerlichen Zeitalters, der
modernen Ökonomie, Technik und Wissenschaft ist Voraussetzung für
sozialen und kulturellen Fortschritt im Interesse aller. Kultur wird in
dieser Gesellschaft nicht das fünfte Rad am Wagen, sondern die
grundlegende Erkenntnisfunktion und Entwicklungsform der Gesellschaft
sein. Wir sind überzeugt, daß diese Kultur Raum bietet für alle
progressiven politischen Bewegungen und geistigen Strömungen: von der
marxistischen Linken bis zu national-konservativen Gesinnungen.
Ausgeschlossen von unserer Vereinigung sollen Rechte aller Couleurs und
Verfechter des alten, überlebten Sozialismuskonstrukts und seiner
bildungszentrierten und deformierten Kultur sein. Willkommen sind alle,
die an der demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft und ihrer
Kultur interessiert sind, die sich aus humanistischen, christlichen
oder sozialistischen Idealen für eine deutsche demokratische Republik
in einem europäischen Haus einsetzen.
Die "Kulturpolitische Gesellschaft der DDR" wird durch Ideen und
Vorschläge, Analysen und Experimente, Diskurs und Meinungsstreit zur
Ausarbeitung einer neuen kulturellen Strategie in unserem Lande
beitragen. Kultur für alle und durch alle soll unser Arbeitsprinzip
sein. Folgende Arbeitsgebiete schlagen wir zunächst vor:
1. Kultur als strategische Dimension und demokratische
Angelegenheit. Verständigung über Weg und Ziel kultureller Entwicklung,
Entwürfe für eine neue Kulturpolitik, für ein wissenschaftlich
fundiertes und international orientiertes Kulturverständnis.
2. Erneuerung des geistigen Lebens, Aufnahme und Verarbeitung von
Erfahrungen des demokratischen Aufbruchs und des öffentlichen Dialogs.
Kritik der alten Kulturverhältnisse und ihrer deformierenden sozialen
und individuellen Folgen. Entwurf einer diskursiven, dialogfähigen
Kultur.
3. Orientierung auf die wissenschaftlich-technische Revolution,
Überwindung der Existenz- und Entwicklungsformen frühkapitalistischer
Industriekultur in der DDR. Für eine neue Kultur der Arbeit in
Industrie, Landwirtschaft und Infrastruktur.
4. Ökologische Umgestaltung von Produktions- und Lebensweise. Ein
"Öko-Sozialismus" neuer Art als produktive Alternative zur
kapitalistischen Leistungs- und Konsumgesellschaft. Umweltbewußtsein
als strategisches Denken und Massenbewußtsein. In diesem Zusammenhang
müssen auch Fragen einer vernünftigen Konsumtion diskutiert werden.
5. Erhaltung und Erneuerung der gebauten Umwelt, Programme und
Entwürfe zur Rettung der Groß-, Mittel- und Kleinstädte der DDR.
Wiedergeburt von Architektur und Landschaftsgestaltung. Orientierung
auf kulturhistorisch wertvolle Besonderheiten in Städten und Regionen,
Konzepte für großstädtische Kultur und Dorfkultur.
6. Kulturelle Kommunikation und Medien. Veränderungen in der
Medienkultur im Prozeß der Umgestaltung. Spezifik sozialistischer
Medienkultur. Dynamik der Internationalisierung in den Botschaften und
der Sprache der Medien. Medien und Alltag von sozialen und kulturellen
Gruppen. Neue Medien in Arbeit und Freizeit.
7. Vereine und Verbände im gesellschaftlichen und kulturellen Leben
der DDR. Selbstorganisation der Gesellschaft nach sozialen Interessen
und kulturellen Bedürfnissen. Umgestaltung bestehender Organisationen
(z.B. Kulturbund), Auflösung überlebter und Bildung neuer Verbände und
Vereine. Traditionen von Vereinskultur.
8. Frauenbewegung und Frauenkultur. Soziale Lage und kulturelle
Situation der Frauen in der DDR. Bestehende Organisationen, deren
Perspektive. Politische und kulturelle Interessenvertretungen der
Frauen. Internationale Erfahrungen der Frauenbewegung. Konzepte für
eine öffentliche Frauenkultur.
9. Erziehung und Bildung zu einem neuen Kulturverständnis. Reform
des Bildungswesens, neue Zielsetzungen: Ausbildung von Fachleuten mit
einem berufsbezogenen und auf allgemeine Interessen orientierten Ethos.
Überwindung des Schulsystems und Zirkelwesens in der
"Erwachsenenbildung". Neubestimmung der Rolle des Marxismus in der
Gesellschaft.
10. Die Künste im System der kulturellen Kommunikation. Traditionen
künstlerischer Kultur, Folgen ihrer Institutionalisierung. Verhältnis
von Avantgarde und Massenkultur in den Künsten. Perspektive der Künste
in einem dynamischen, internationalistisch orientierten Kulturprozeß.
Veränderungen in Produktion, Verbreitung und Gebrauch der Künste.
11. Umgestaltung des Systems kultureller Einrichtungen und
Institutionen. Überwindung der vorrangigen Orientierung auf
bürokratisch kontrolliertes "Kulturangebot" und "Volkskunst".
Nichtmediale Massenkultur vor allem als kommunale Kultur ausbilden und
verstehen. Neue Erfahrungen einer bürgernahen Kulturpolitik.
12. Nationales Erbe und sozialistische Traditionen unserer Kultur.
Renaissance der demokratischen, humanistischen und sozialistischen
Traditionen der DDR. Vorschläge für kulturelle Identität im Anschluß an
west- und osteuropäische Kultur. Bausteine zu einem regional
spezifischen Kulturkonzept der DDR.
13. Arbeiterklasse und Intelligenz in der Kultur. Klassenkultur als
Kern sozialistischer Massenkultur. Kulturelle Funktionen der
Intelligenz. Selbstbestimmung ihrer Interessen. Kulturarbeit der
Intelligenz und für die Intelligenz. Soziale und kulturelle
Schichtungen der Bedürfnisse und Interessen.
14. Kulturwissenschaft und Kulturarbeit. Traditionen und
Perspektiven der Kultur-, Kunst- und Medienwissenschaften in der DDR.
Entwicklung von Kulturgeschichte und Kultursoziologie. Verhältnis zur
Philosophie und Psychologie. Kulturwissenschaft und Kulturpolitik. Aus-
und Weiterbildung in Kulturpolitik und Kulturpraxis.
Auf diesen Gebieten will die "Kulturpolitische Gesellschaft der
DDR" arbeiten und das Ihre zur kulturellen Erneuerung beitragen.
Mitglied der Gesellschaft kann jeder werden, der auf einem der
angesprochenen Arbeitsgebiete praktisch oder geistig tätig ist oder
sich neben seiner beruflichen Tätigkeit vor allem für Kultur in einem
weiten, demokratischen Sinne interessiert.
Geschrieben am 12. 11. 89 von Helmut Hanke
(aus der Handschrift am 13. 11. 89 von Dietrich Mühlberg getreulich übertragen)
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