Zeitdokument | Kulturation 2012 | Autorenkollektiv der Arbeitsgruppe Kulturtheorie | DDR-Kulturwissenschaft 01: Marx und Engels zur wissenschaftlichen Kulturauffassung (1970-75) | "Der
Beitrag von Marx und Engels zur wissenschaftlichen Kulturauffassung der
Arbeiterklasse" - Kulturwissenschaftliche Studientexte, ausgearbeitet
von einem Autorenkollektiv der Arbeitsgruppe Kulturtheorie in der
Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaften der Humboldt-Universität zu
Berlin in den Jahren 1970 - 1975
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Marx und Engels über Kultur
Vorbemerkungen zur Veröffentlichung einer Sammlung
kulturwissenschaftlicher Studientexte vier Jahrzehnte nach ihrem
Erscheinen als "Manuskriptdruck"
Das Online-Journal Kulturation macht hiermit Texte zur
Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft in rekonstruierter
Fassung öffentlich. Die hier vorgestellten Studien sind vor vierzig
Jahren entstanden und schon darum ist ihre erneute Publikation
erklärungsbedürftig. Sie verdanken ihr Entstehen hochschulpolitischen
Neuerungen in der DDR, die ein weiteres Jahrzehnt zurückliegen. 1963
wurde der Diplomstudiengang Kulturwissenschaft an den Universitäten
Leipzig und Berlin eröffnet. Für die "Leitung kultureller Prozesse"
sollten akademisch gebildete Fachleute gewonnen werden, solche, die
"etwas von Kultur" verstehen und sie auf sozialistische Weise zu
fördern vermögen. Die im Kontext dieser Lehraufgabe entstandenen
Studien gingen über eine bloße Zitatensammlung hinaus (die von Michail
Lifschitz war schon 1953 in deutscher Fassung erschienen). Es entstand
eine nach bestimmten Gesichtspunkten gegliederte Auswertung von Texten
der "Klassiker" und einiger ihrer geistigen Vorläufer, Zeitgenossen und
späteren „Erben". Dies als Dienstleistung für die Studierenden und
Lehrenden der Berliner Kulturwissenschaft. Um diese Zeit wurde von den
Protagonisten wie von Gründern eines akademischen Studiengangs
Kulturwissenschaft unter "Kultur" ein Doppeltes verstanden. Einerseits
wurde Kultur als ein institutionell strukturiertes "kulturelles Leben"
begriffen, in dessen Mittelpunkt der Umgang mit den Künsten stand. In
einem weiteren Sinne galt Kultur als das Bewahrenswerte, als das
Wertvolle überhaupt, wurde als Einheit von „materieller und geistiger
Kultur" oder als "kulturelle Eigenart" einer Nation oder Klasse
aufgefasst.
Die Mitarbeiter der neuen Fachrichtung - an der
Humboldt-Universität in Berlin war es im Kern die Abteilung Ästhetik
des Instituts für Philosophie - suchten sich in drei Richtungen zu
orientieren. Einmal selbstverständlich an der "kulturellen Praxis", für
die befähigter Nachwuchs ausgebildet werden sollte. Dann in Richtung
wissenschaftlich begründeter Aussagen über die Verflechtungen von Kunst
und Gesellschaft, und drittens wurde versucht, eine brauchbare
allgemeine Kulturtheorie zu finden, also das eigene Kulturverständnis
philosophisch und gesellschaftstheoretisch zu begründen. Dies geschah
zwei Jahrzehnte vor dem "Cultural turn" der Sozial- und
Geisteswissenschaften im Westen, wo 1980 als Gründungsjahr der
Kulturwissenschaft gilt. 1963 war die einschlägige Literatur weltweit
mager, brauchbare theoretische Ansätze waren kaum zu finden und die
Arbeiten von Simmel, Alfred und Max Weber, von Elias, von Adorno,
Marcuse usw. noch nicht verfügbar. Die "cultural studies" in Birmingham
waren als selbständige Wissenschaft erst im Entstehen begriffen, wurde
doch das CCCS unter Richard Hoggart etwa zeitgleich gegründet (1964).
1972 erschien „Culture and Society“ von Raymond Williams und war erst
1977 - übersetzt von H. Gustav Klaus – in Westdeutschland verfügbar.
Neben den Rückgriffen auf die Traditionen vor allem der klassischen
deutschen Philosophie, auf die durch Lenin geprägten
revolutionstheoretischen Schriften und auf die Begründungstexte
sozialistischer Kulturpolitik von Erhard John bis Hans Koch wurden seit
Mitte der 60er Jahre die Schriften von Marx und Engels auf ihren
kulturtheoretischen Gehalt geprüft. Bevor im Westen - von den 68ern
initiiert - die "Kapitalseminare" in Mode kamen, wurde auch hier eine
Art "Ableitungsmarxismus" geübt und nachzuweisen versucht, dass sich
aus dem gesellschaftstheoretischen Ansatz von Marx ein
kulturtheoretisches Konzept entwickeln lässt. Und dies, obwohl der
Begriff "Kultur" bei Marx nur als "Agrikultur" vorkommt und erst in den
ethnologischen Exzerptheften der späten Jahre (schließlich von Engels
ausgewertet) der ethnologische Kulturbegriff von ihm notiert worden
ist. Allerdings boten die gerade zugänglich gewordenen "Frühschriften"
von Marx hinreichend Stoff für kulturtheoretische Interpretationen.
Der gewählte Titel der Textsammlung unterstellt eine
"wissenschaftliche Kulturauffassung der Arbeiterklasse". Mit dieser
eigenartigen Überschrift waren mehrere Anliegen verbunden. Einmal
sollte die übliche Bezeichnung "marxistisch-leninistische
Kulturtheorie" vermieden werden, ohne das erwartete politische
Bekenntnis vermissen zu lassen. Damit war zugleich mitgeteilt, dass
Marx und Engels einen "Beitrag" geleistet haben, diese Kulturauffassung
aber weiter als der "Marxismus" zu fassen sei. Es war zugleich
angedeutet, dass Kulturvorstellungen jenseits theoretischer
Konstruktionen ein weites Feld ideologischer Bildungen sind und dass
dies auch für die Arbeiterklasse gilt - also für die Gruppen,
Generationen, Milieus der Arbeiter, für ihre Bewegungen und für die
Theoretiker, die sich auf sie berufen. Im Kern aber geschah dieser
Bezug auf "die Arbeiterklasse" in/mit einer zweifachen Absicht. Einmal
um deutlich zu machen, dass der zunächst bürgerlich formulierte
Anspruch aller Menschen auf freie Entfaltung ihrer Individualität für
die Masse der arbeitenden Menschen geschichtlich erst in der Gestalt
des doppelt freien Lohnarbeiters in den Bereich realer Möglichkeiten
rückt: als Arbeitender zeigt er erstmals alle Züge des modernen
Individuums. Zum anderen sollte damit eine Rückbindung an die Empirie
der realen Existenzweise arbeitender Menschen im Kapitalismus, vor
allem aber im Sozialismus angedeutet werden. Schließlich fielen diese
Marx-Engels-Studien zeitlich mit der Vorbereitung eines größeren
Projekts zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiter zusammen. Vor
allem dieser Kontext verlangte es, sich der von Marx und Engels
betonten kulturrevolutionären Kraft der kapitalgeprägten Gesellschaft
zu versichern, die die so verschiedenen Varietäten des modernen
Individuums hervorgebracht hat.
Was da bei den Klassikern an kulturtheoretisch relevanten
Äußerungen gefunden wurde, ist exzerpiert und kommentiert worden und
dann den Studierenden in den entsprechenden thematischen Zusammenhängen
der Lehre als hektographierte Lektüre zugänglich gemacht worden.
Zugleich dienten diese Texte auch der Kommunikation unter den
beteiligten Kollegen. Anfang der 1970er kam der Vorschlag auf, all dies
noch einmal gesammelt zu vervielfältigen und jedem Mitglied des
„Autorenkollektivs“ ein Exemplar als Erinnerungsstück auszuhändigen. Es
wurde fortan das „blaue Wunder“ genannt – wegen seines Einbandes in
MEGA-blauem Kunstleder.
Wenn dieses Arbeitsmaterial aus der Frühzeit der
DDR-Kulturwissenschaft von den immer weiter verblassenden
hektografierten Blättern nun in eine länger lesbare Form übertragen
wurde, dann hat der verantwortliche Arbeitskreis "Geschichte der
ostdeutschen Kulturwissenschaft" damit einen Beleg für die damalige
Arbeitsweise sichern wollen. Deutlich sichtbar wird daran der doppelte
Zweck. Einmal der der Selbstversicherung der Lehrenden wie auch ihrer
gleichzeitigen didaktischen Absicht. So finden sich immer wieder
Passagen, in denen "die Klassiker" herangezogen werden, um die
kulturtheoretisch in die Mitte gerückten Ansprüche des modernen
Individuums zu legitimieren. Häufig nimmt das den Stil von
Autoritätsbeweisen an, sollte aber gleichzeitig signalisieren: das ist
„echter“ Marxismus und gehört zum System der marxistisch-leninistischen
Gesellschaftswissenschaften. Solche Gewissheit war auch den
Studierenden zu vermitteln. Aus heutiger Sicht müssen manche Passagen
etwas umständlich und gestelzt erscheinen. Auch merkt man dem Text an,
dass - vom Forschungsstudenten bis zum Hochschullehrer - Autorinnen und
Autoren mit unterschiedlicher Arbeitserfahrung mitgewirkt haben. Über
etliche der sehr ernst vorgebrachten Argumente wird nicht nur der
Wissenschaftshistoriker schmunzeln. Aber einige der hier entwickelten
Begründungszusammenhänge dürften heute, lange nach dem Verschwinden der
Gesellschaft, für deren Kulturverständnis sie eigentlich gedacht waren,
provozieren und zum Nachdenken anregen. So könnte diese Sicherung einer
wissenschaftsgeschichtlichen Quelle vielleicht an der nun schon einige
Zeit anhaltenden Aufwertung marxistisch geprägter Gedankengänge
mitwirken, womöglich sogar die Neugier wecken, selbst einmal bei den
„Klassikern“ von damals nachzulesen.
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkungen
Zur Veröffentlichung eines kulturwissenschaftlichen Studientextes
vier Jahrzehnte nach seinem Erscheinen als "Manuskriptdruck" (S. 2)
I.
Marxistische Gesellschaftstheorie und aktuelle Probleme
der Kulturwissenschaft
1. Absicht und Voraussetzungen der Arbeit (S. 8)
2. Gesellschaft und Kultur (S. 8)
3. Kultur - Ebenen der Abstraktion (S. 12)
4. Kulturauffassung und Ideologie der Arbeiterklasse (S. 15)
5. Quellen wissenschaftlicher Kulturauffassung (S. 22)
6. Historischer Materialismus und Struktur der Kulturtheorie (S. 23)
7. Kultur als Wert - Kriterien (S. 29)
8. Kulturtheorie und Kulturgeschichte (S. 30)
9. Das Verhältnis zur bürgerlichen Kulturauffassung ( S. 33)
II.
Die Kulturauffassung der aufstrebenden Bourgeoisie -
Das kulturtheoretische Denken von Bacon bis zu den utopischen
Sozialisten und Kommunisten als Quelle der kulturtheoretischen
Auffassungen von Marx und Engels
1. Sozialökonomische und ideologische Voraussetzungen für die
bürgerliche Fassung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft
(S. 36)
2. Historische Resultate der kapitalistischen Kulturrevolution (S. 52)
3. Der Anspruch auf die Entwicklung aller Fähigkeiten und Kräfte
der Menschen in der materialistischen und aufklärerischen Tradition der
bürgerlichen Kulturauffassung (S. 55)
4. Der gesellschaftliche Reichtum als Produkt der produktiven
Tätigkeit der Individuen der kapitalistischen Gesellschaft in der
politischen Ökonomie des Bürgertums (S. 75)
5. Immanuel Kant - Der theoretische Entwurf eines Endzwecks Kultur (S. 88)
6. Die menschliche Arbeit als die Grundlage der gesellschaftlichen
und kulturellen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft in der
Kulturauffassung Hegels (S. 98)
7. Zu Aspekten der Kulturauffassung der utopischen Sozialisten und Kommunisten (S. 108)
III.
Kapitalismus, Arbeiterklasse und Kultur
1. Die Grundlegung einer wissenschaftlichen Kulturauffassung der Arbeiterklasse durch Karl Marx und Friedrich Engels (S. 133)
2. Materialismus, Kommunismus und wissenschaftliche Kulturauffassung (S. 134)
3. Das Kapital „als bloßer Übergangspunkt gesetzt“ (S. 147)
IV.
Kapitalistische Gesellschaftsstruktur und Kultur
1. Vorbemerkung (S. 155)
2. Gesellschaftliche Entwicklung und kultureller Fortschritt (S. 156)
3. Produktivkraftentwicklung, soziale Beziehungen, Bedürfnisse der Produzenten (S. 161)
4. Die Vergesellschaftung aller Beziehungen der Individuen (S. 166)
5. Historische Formen des Reichtums, das Mehrprodukt in seiner Kapitalform (S. 171)
6. Austauschbeziehungen und Individualentwicklung (S. 181)
7. Grenzen des Kapitalismus und die allgemeinen Bedingungen seiner Überwindung (S. 189)
V.
Lebensbedingungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus und
proletarische Kultur
1. Gesellschaften, Klassen, Individuen (S. 192)
2. Arbeit und Kultur (S. 203)
3. Bedürfnisentwicklung und Kultur (S. 229)
4. Städtische Lebensweise der Arbeiterklasse und proletarische Kultur (S. 247)
5. Familie als soziale Organisationsform und individuelle Lebensbedingung (S. 256)
6. Klassenentwicklung und soziale Kommunikation (S. 272)
VI.
Zur Persönlichkeitsauffassung von Marx und Engels
1. Einleitung (S. 281)
2. Gesellschaftliche Verhältnisse – menschliches Wesen - Individuum (S. 282)
3. Ökonomische Gesellschaftsformationen - historische Individualitätsformen (S: 290)
4. Ansätze zu einer historischen Theorie der inneren Entfaltungsbedingungen der Individuen (S. 298)
5. Marx und Engels zur historischen Individualitätsform des Kommunismus (S. 302)
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