KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ZeitdokumentKulturation 2012
Autorenkollektiv der Arbeitsgruppe Kulturtheorie
DDR-Kulturwissenschaft 01:
Marx und Engels zur wissenschaftlichen Kulturauffassung (1970-75)
"Der Beitrag von Marx und Engels zur wissenschaftlichen Kulturauffassung der Arbeiterklasse" - Kulturwissenschaftliche Studientexte, ausgearbeitet von einem Autorenkollektiv der Arbeitsgruppe Kulturtheorie in der Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin in den Jahren 1970 - 1975
PDF der Studientexte hier anklicken >>> Marx und Engels über Kultur

Vorbemerkungen zur Veröffentlichung einer Sammlung kulturwissenschaftlicher Studientexte vier Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen als "Manuskriptdruck"

Das Online-Journal Kulturation macht hiermit Texte zur Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft in rekonstruierter Fassung öffentlich. Die hier vorgestellten Studien sind vor vierzig Jahren entstanden und schon darum ist ihre erneute Publikation erklärungsbedürftig. Sie verdanken ihr Entstehen hochschulpolitischen Neuerungen in der DDR, die ein weiteres Jahrzehnt zurückliegen. 1963 wurde der Diplomstudiengang Kulturwissenschaft an den Universitäten Leipzig und Berlin eröffnet. Für die "Leitung kultureller Prozesse" sollten akademisch gebildete Fachleute gewonnen werden, solche, die "etwas von Kultur" verstehen und sie auf sozialistische Weise zu fördern vermögen. Die im Kontext dieser Lehraufgabe entstandenen Studien gingen über eine bloße Zitatensammlung hinaus (die von Michail Lifschitz war schon 1953 in deutscher Fassung erschienen). Es entstand eine nach bestimmten Gesichtspunkten gegliederte Auswertung von Texten der "Klassiker" und einiger ihrer geistigen Vorläufer, Zeitgenossen und späteren „Erben". Dies als Dienstleistung für die Studierenden und Lehrenden der Berliner Kulturwissenschaft. Um diese Zeit wurde von den Protagonisten wie von Gründern eines akademischen Studiengangs Kulturwissenschaft unter "Kultur" ein Doppeltes verstanden. Einerseits wurde Kultur als ein institutionell strukturiertes "kulturelles Leben" begriffen, in dessen Mittelpunkt der Umgang mit den Künsten stand. In einem weiteren Sinne galt Kultur als das Bewahrenswerte, als das Wertvolle überhaupt, wurde als Einheit von „materieller und geistiger Kultur" oder als "kulturelle Eigenart" einer Nation oder Klasse aufgefasst.

Die Mitarbeiter der neuen Fachrichtung - an der Humboldt-Universität in Berlin war es im Kern die Abteilung Ästhetik des Instituts für Philosophie - suchten sich in drei Richtungen zu orientieren. Einmal selbstverständlich an der "kulturellen Praxis", für die befähigter Nachwuchs ausgebildet werden sollte. Dann in Richtung wissenschaftlich begründeter Aussagen über die Verflechtungen von Kunst und Gesellschaft, und drittens wurde versucht, eine brauchbare allgemeine Kulturtheorie zu finden, also das eigene Kulturverständnis philosophisch und gesellschaftstheoretisch zu begründen. Dies geschah zwei Jahrzehnte vor dem "Cultural turn" der Sozial- und Geisteswissenschaften im Westen, wo 1980 als Gründungsjahr der Kulturwissenschaft gilt. 1963 war die einschlägige Literatur weltweit mager, brauchbare theoretische Ansätze waren kaum zu finden und die Arbeiten von Simmel, Alfred und Max Weber, von Elias, von Adorno, Marcuse usw. noch nicht verfügbar. Die "cultural studies" in Birmingham waren als selbständige Wissenschaft erst im Entstehen begriffen, wurde doch das CCCS unter Richard Hoggart etwa zeitgleich gegründet (1964). 1972 erschien „Culture and Society“ von Raymond Williams und war erst 1977 - übersetzt von H. Gustav Klaus – in Westdeutschland verfügbar. Neben den Rückgriffen auf die Traditionen vor allem der klassischen deutschen Philosophie, auf die durch Lenin geprägten revolutionstheoretischen Schriften und auf die Begründungstexte sozialistischer Kulturpolitik von Erhard John bis Hans Koch wurden seit Mitte der 60er Jahre die Schriften von Marx und Engels auf ihren kulturtheoretischen Gehalt geprüft. Bevor im Westen - von den 68ern initiiert - die "Kapitalseminare" in Mode kamen, wurde auch hier eine Art "Ableitungsmarxismus" geübt und nachzuweisen versucht, dass sich aus dem gesellschaftstheoretischen Ansatz von Marx ein kulturtheoretisches Konzept entwickeln lässt. Und dies, obwohl der Begriff "Kultur" bei Marx nur als "Agrikultur" vorkommt und erst in den ethnologischen Exzerptheften der späten Jahre (schließlich von Engels ausgewertet) der ethnologische Kulturbegriff von ihm notiert worden ist. Allerdings boten die gerade zugänglich gewordenen "Frühschriften" von Marx hinreichend Stoff für kulturtheoretische Interpretationen.

Der gewählte Titel der Textsammlung unterstellt eine "wissenschaftliche Kulturauffassung der Arbeiterklasse". Mit dieser eigenartigen Überschrift waren mehrere Anliegen verbunden. Einmal sollte die übliche Bezeichnung "marxistisch-leninistische Kulturtheorie" vermieden werden, ohne das erwartete politische Bekenntnis vermissen zu lassen. Damit war zugleich mitgeteilt, dass Marx und Engels einen "Beitrag" geleistet haben, diese Kulturauffassung aber weiter als der "Marxismus" zu fassen sei. Es war zugleich angedeutet, dass Kulturvorstellungen jenseits theoretischer Konstruktionen ein weites Feld ideologischer Bildungen sind und dass dies auch für die Arbeiterklasse gilt - also für die Gruppen, Generationen, Milieus der Arbeiter, für ihre Bewegungen und für die Theoretiker, die sich auf sie berufen. Im Kern aber geschah dieser Bezug auf "die Arbeiterklasse" in/mit einer zweifachen Absicht. Einmal um deutlich zu machen, dass der zunächst bürgerlich formulierte Anspruch aller Menschen auf freie Entfaltung ihrer Individualität für die Masse der arbeitenden Menschen geschichtlich erst in der Gestalt des doppelt freien Lohnarbeiters in den Bereich realer Möglichkeiten rückt: als Arbeitender zeigt er erstmals alle Züge des modernen Individuums. Zum anderen sollte damit eine Rückbindung an die Empirie der realen Existenzweise arbeitender Menschen im Kapitalismus, vor allem aber im Sozialismus angedeutet werden. Schließlich fielen diese Marx-Engels-Studien zeitlich mit der Vorbereitung eines größeren Projekts zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiter zusammen. Vor allem dieser Kontext verlangte es, sich der von Marx und Engels betonten kulturrevolutionären Kraft der kapitalgeprägten Gesellschaft zu versichern, die die so verschiedenen Varietäten des modernen Individuums hervorgebracht hat.

Was da bei den Klassikern an kulturtheoretisch relevanten Äußerungen gefunden wurde, ist exzerpiert und kommentiert worden und dann den Studierenden in den entsprechenden thematischen Zusammenhängen der Lehre als hektographierte Lektüre zugänglich gemacht worden. Zugleich dienten diese Texte auch der Kommunikation unter den beteiligten Kollegen. Anfang der 1970er kam der Vorschlag auf, all dies noch einmal gesammelt zu vervielfältigen und jedem Mitglied des „Autorenkollektivs“ ein Exemplar als Erinnerungsstück auszuhändigen. Es wurde fortan das „blaue Wunder“ genannt – wegen seines Einbandes in MEGA-blauem Kunstleder.

Wenn dieses Arbeitsmaterial aus der Frühzeit der DDR-Kulturwissenschaft von den immer weiter verblassenden hektografierten Blättern nun in eine länger lesbare Form übertragen wurde, dann hat der verantwortliche Arbeitskreis "Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft" damit einen Beleg für die damalige Arbeitsweise sichern wollen. Deutlich sichtbar wird daran der doppelte Zweck. Einmal der der Selbstversicherung der Lehrenden wie auch ihrer gleichzeitigen didaktischen Absicht. So finden sich immer wieder Passagen, in denen "die Klassiker" herangezogen werden, um die kulturtheoretisch in die Mitte gerückten Ansprüche des modernen Individuums zu legitimieren. Häufig nimmt das den Stil von Autoritätsbeweisen an, sollte aber gleichzeitig signalisieren: das ist „echter“ Marxismus und gehört zum System der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften. Solche Gewissheit war auch den Studierenden zu vermitteln. Aus heutiger Sicht müssen manche Passagen etwas umständlich und gestelzt erscheinen. Auch merkt man dem Text an, dass - vom Forschungsstudenten bis zum Hochschullehrer - Autorinnen und Autoren mit unterschiedlicher Arbeitserfahrung mitgewirkt haben. Über etliche der sehr ernst vorgebrachten Argumente wird nicht nur der Wissenschaftshistoriker schmunzeln. Aber einige der hier entwickelten Begründungszusammenhänge dürften heute, lange nach dem Verschwinden der Gesellschaft, für deren Kulturverständnis sie eigentlich gedacht waren, provozieren und zum Nachdenken anregen. So könnte diese Sicherung einer wissenschaftsgeschichtlichen Quelle vielleicht an der nun schon einige Zeit anhaltenden Aufwertung marxistisch geprägter Gedankengänge mitwirken, womöglich sogar die Neugier wecken, selbst einmal bei den „Klassikern“ von damals nachzulesen.


Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

Zur Veröffentlichung eines kulturwissenschaftlichen Studientextes
vier Jahrzehnte nach seinem Erscheinen als "Manuskriptdruck" (S. 2)


I.
Marxistische Gesellschaftstheorie und aktuelle Probleme
der Kulturwissenschaft


1. Absicht und Voraussetzungen der Arbeit (S. 8)
2. Gesellschaft und Kultur (S. 8)
3. Kultur - Ebenen der Abstraktion (S. 12)
4. Kulturauffassung und Ideologie der Arbeiterklasse (S. 15)
5. Quellen wissenschaftlicher Kulturauffassung (S. 22)
6. Historischer Materialismus und Struktur der Kulturtheorie (S. 23)
7. Kultur als Wert - Kriterien (S. 29)
8. Kulturtheorie und Kulturgeschichte (S. 30)
9. Das Verhältnis zur bürgerlichen Kulturauffassung ( S. 33)

II.
Die Kulturauffassung der aufstrebenden Bourgeoisie -
Das kulturtheoretische Denken von Bacon bis zu den utopischen
Sozialisten und Kommunisten als Quelle der kulturtheoretischen
Auffassungen von Marx und Engels


1. Sozialökonomische und ideologische Voraussetzungen für die bürgerliche Fassung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft (S. 36)
2. Historische Resultate der kapitalistischen Kulturrevolution (S. 52)
3. Der Anspruch auf die Entwicklung aller Fähigkeiten und Kräfte der Menschen in der materialistischen und aufklärerischen Tradition der bürgerlichen Kulturauffassung (S. 55)
4. Der gesellschaftliche Reichtum als Produkt der produktiven Tätigkeit der Individuen der kapitalistischen Gesellschaft in der politischen Ökonomie des Bürgertums (S. 75)
5. Immanuel Kant - Der theoretische Entwurf eines Endzwecks Kultur (S. 88)
6. Die menschliche Arbeit als die Grundlage der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft in der Kulturauffassung Hegels (S. 98)
7. Zu Aspekten der Kulturauffassung der utopischen Sozialisten und Kommunisten (S. 108)

III.
Kapitalismus, Arbeiterklasse und Kultur


1. Die Grundlegung einer wissenschaftlichen Kulturauffassung der Arbeiterklasse durch Karl Marx und Friedrich Engels (S. 133)
2. Materialismus, Kommunismus und wissenschaftliche Kulturauffassung (S. 134)
3. Das Kapital „als bloßer Übergangspunkt gesetzt“ (S. 147)

IV.
Kapitalistische Gesellschaftsstruktur und Kultur


1. Vorbemerkung (S. 155)
2. Gesellschaftliche Entwicklung und kultureller Fortschritt (S. 156)
3. Produktivkraftentwicklung, soziale Beziehungen, Bedürfnisse der Produzenten (S. 161)
4. Die Vergesellschaftung aller Beziehungen der Individuen (S. 166)
5. Historische Formen des Reichtums, das Mehrprodukt in seiner Kapitalform (S. 171)
6. Austauschbeziehungen und Individualentwicklung (S. 181)
7. Grenzen des Kapitalismus und die allgemeinen Bedingungen seiner Überwindung (S. 189)

V.
Lebensbedingungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus und
proletarische Kultur


1. Gesellschaften, Klassen, Individuen (S. 192)
2. Arbeit und Kultur (S. 203)
3. Bedürfnisentwicklung und Kultur (S. 229)
4. Städtische Lebensweise der Arbeiterklasse und proletarische Kultur (S. 247)
5. Familie als soziale Organisationsform und individuelle Lebensbedingung (S. 256)
6. Klassenentwicklung und soziale Kommunikation (S. 272)

VI.
Zur Persönlichkeitsauffassung von Marx und Engels


1. Einleitung (S. 281)
2. Gesellschaftliche Verhältnisse – menschliches Wesen - Individuum (S. 282)
3. Ökonomische Gesellschaftsformationen - historische Individualitätsformen (S: 290)
4. Ansätze zu einer historischen Theorie der inneren Entfaltungsbedingungen der Individuen (S. 298)
5. Marx und Engels zur historischen Individualitätsform des Kommunismus (S. 302)