Zeitdokument | Kulturation 2014 | Dieter Kramer / Archiv Kulturation | Dieter Kramer: Zwischen-Rede - die Entdeckung deutsch-deutscher Kulturpolitik
Ein Manuskript von der Jahreswende 1989 |
| Vorspruch im Mai 2014
Dieser Text ist ein historisches Dokument. Ich möchte zwei, drei
Dinge heute (2015, fünfundzwanzig Jahre später) herausgehoben zitieren:
Auch heute. Nach der neoliberalen Offensive, „liegen noch keine
überzeugenden Konzepte“ für eine „ökologisch geprägte
Überlebens-Kultur“ vor. In manchen Aspekten sind die damaligen
Diskussionen überraschend aktuell, etwa in dem zitierten Wortwechsel
Kirsch/Duve: Rainer Kirsch (DDR) warnt davor, jetzt einen falschen Gott
durch einen richtigen, "das Volk", zu ersetzen. Er fragt: Wird man je
wieder sagen können, dass auch das Volk irren kann? Freimut Duve
verteidigt daraufhin vehement das Prinzip der demokratischen
Mehrheitsentscheidung und gibt den Ball zurück: Ob Mehrheiten irren,
sei auch eine Frage des Engagements der Künstler.
Ähnliches gilt für den Hinweis auf Kultur (Künste) als „Ressource
gesellschaftlicher Entwicklungsfähigkeit, auch wegen ihrer Fähigkeit,
‚Gegenöffentlichkeiten‘ herzustellen“. Nicht missen möchte ich auch das Stichwort „Ökonomisierung ist etwas anderes als ökonomische Vernunft“ (und die Umkehrung).
Im November 1989 habe ich mich für einige Zeit auf den Ritten bei
Bozen zurückgezogen um über die Veränderungen nachzulesen und
nachzudenken. Wenig später habe ich zwei kleine Aufsätze geschrieben,
in denen meine Vorstellungen von den anstehenden Aufgaben formuliert
sind. Es kam alles anders.
Zwischen-Rede - ein Manuskript von der Jahreswende 1989/90
Neue Diskussions-Strukturen
Noch zwei Tage vor Weihnachten 1989, in einem rasch einberufenen
Treffen, kamen Kulturproduzenten und Kulturpolitiker in der
Ost-Berliner Akademie der Künste zusammen: Repräsentanten der
West-Berliner rot-grünen Szene, angereichert durch einige Gäste aus der
Bundesrepublik, diskutierten im großen Saal der Akademie mit Künstlern
und Kulturforschern aus der DDR, die sich gerade in der
"KulturInitiative '89 / Gesellschaft für demokratische Kultur, DDR" zu
organisieren versuchten. Deren erster "Aufruf zur Mitwirkung" vom 17.
November 1989 formuliert einen hohen Anspruch: "In einer ökologisch
geprägten Überlebens-Kultur könnte ein originärer Beitrag der
DDR-Gesellschaft zur europäischen Kultur bestehen." Die "Thesen für
eine programmatische Erklärung (Entwurf)" vom 18. Dezember 1989
thematisieren die Aufgaben: ,,Es liegen noch keine überzeugenden
Konzepte darüber vor, wie die unumgänglichen und weitreichenden
wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Umgestaltungen so
eingeleitet werden, dass sie am Ende noch den kulturellen
Wertvorstellungen entsprechen, von denen sich die Reformbewegung ideell
leiten ließ: Achtung der Menschenrechte, individuelle Selbstbestimmung,
soziale Gerechtigkeit, wirkliche Gleichstellung der Geschlechter,
weitgreifende Solidarität, Schutz der natürlichen und historischen
Voraussetzungen des Lebens und mehr individuelle Autonomie in allen
Formen der Arbeit (für Arbeiter und Bauern ebenso wie für Künstler und
Wissenschaftler)."
Es bemühten sich um Moderation: die Kabarettistin Gisela
Oechelhaeuser (DDR) und Ulrich Roloff-Momin (Berlin-West). Grüßen lässt
Peter Härtling, der gern dabei gewesen wäre, wenn über die "verdammte
gemeinsame deutsche Verdrängungspraxis" gesprochen wird. Im übrigen:
formlos, aber diszipliniert.
Dass so etwas auch chaotisch enden kann, ließ schon zu Beginn der
Beitrag des Philosophen Gerd Irrlitz erkennen: "In der Niederlage ist
gut träumen", resümiert er und holt aus zu einem
geschichtsphilosophischen Exkurs, der in der unproblematisierten
Forderung gipfelt, unter allen Umständen als Voraussetzung aller
Änderungen die Produktivität der Arbeit zu steigern. Das Publikum murrt
- vermutlich, weil niemand hergekommen ist, um nur das zu hören, was
man ohnehin weiß. Die Fragen, die hier zur Debatte stehen, sind
komplexer.
Die Käseglocke der materiellen Sicherheit
Natürlich ist den Künstlern ihre eigene materielle Perspektive
wichtig. Eine drohende Ökonomisierung der Kultur würde sie hart
treffen. Kulturminister Dietmar Keller, berichtet Joachim Doese, hat
gesagt, dass die Kulturfonds-Mittel reduziert werden müssen. Ein
Transparent zitiert eine ihm zugeschriebene These: Man müsse die
,,Spreu vom Weizen trennen durch Markt-Mechanismen". Er wolle,
referiert ein anderer, die Honorarordnung durch das freie Spiel der
Kräfte ersetzen. Das sei Thatcherismus, aber ohne Abfederung durch
Mäzene. Ob die Sächsische Dichterschule nicht mehr förderungswürdig
sei, ob, wie Helke Misselwitz vom DEFA-Dokumentarfilm warnt, die
einzigartige Dokumentarfilm-Kultur der DDR aus Sparsamkeit aufgegeben
wird - das sind Entscheidungen, die tief in die kulturelle Substanz
dieses Staates eingreifen. Dabei ist, wie Klaus Staeck meint, die DDR
reich durch ihre Künstler (und mit Bitterkeit sagt der Theaterkritiker
Ernst Schumacher: Die DDR hatte mehr Talente als sie brauchen konnte);
Erika Runge empfiehlt Ausnutzung der Erfahrungen der
BRD-Mediengewerkschaft im Umgang mit Medienriesen.
Eine Kultur des Widerstands gegen die einseitige Vorherrschaft des
ökonomischen Diskurses ist gewiss nicht nur für die in ihrer Substanz
bedrohten Künste wichtig. Vielleicht besteht ja die Chance, dass,
gerade weil die Kulturproduzenten selbst so intensiv von der
Ökonomisierung betroffen wären, mit ihrer Hilfe ein besonders
intensiver öffentlicher Diskurs diesbezüglich geführt wird (vielleicht
aber versucht man sie auch deswegen von der Kapitalseite schnell
,,einzukaufen"). Der Staat kann sich in der DDR nicht allzuschnell aus
seiner Verantwortung bezüglich der Künste entlassen: "Entstaatlichung"
mag interessant sein, aber vieles geht nicht mehr ohne den Staat. Und:
Ökonomisierung ist etwas anderes als ökonomische Vernunft.
Kulturpolitik neuer Qualität
Die Gesellschaftstheorie in der DDR hat neue Aufgaben.
Zurechtkommen muss sie mit der Erkenntnis: Vergesellschaftung ist nicht
Verstaatlichung. Der Staat ist nur Instrument von Vergesellschaftung,
nicht deren "höchste Stufe". Das stellt der Kulturpolitik neue
Aufgaben. Sie beziehen sich auf mehr denn auf die materielle Struktur
der Kulturproduktion. Es steht an: Der Übergang von einer
Kulturpolitik, die in imperativen ideologisch-politischen Zielvorgaben
bzw. Orientierungen das prinzipielle Steuerungs-Instrument der
Kulturpolitik sah, zu einer Kulturpolitik, die bewusst in sich selbst
regulierenden (freilich in ständiger Rückkoppelung mit der
gesellschaftlichen Realität stehenden) freien kulturellen Kräften,
geprägt von ihrem "Eigensinn" (zu dem ausgeprägte "Bereichsethiken"
gehören können) eine Potenz der Vielfalt sieht, mit deren Hilfe
Lebensqualität, Innovationsfähigkeit und Entwicklungsfähigkeit der
Gesellschaft erhöht werden können. Ähnlich wie Gorbatschows Reform ist
die Kulturtheorie sich darüber im klaren, dass die Erschließung der
Produktivitätsressource "Individualität" nötig ist, dass somit
Kulturentwicklung als Produktivitätsquelle fungiert.
Aber es geht um mehr (sonst liefe Kultur ja Gefahr, der
ökonomischen Instrumentalisierung zum Opfer zu fallen): Kultur ist
Ressource gesellschaftlicher Entwicklungsfähigkeit, auch wegen ihrer
Fähigkeit, ,,Gegenöffentlichkeiten" herzustellen, die Konfliktlagen und
Probleme rechtzeitig thematisieren können (nicht zuletzt daran hat es
in der DDR gefehlt, sonst wäre jenes 20 Jahre aufgeschobene Stöhnen bei
den Mitgliedern der SED, von dem Peter Stein sprach, schon früher
hörbar gewesen). Es ist erstaunlich, wie die Funktionäre der
staatlichen Wirtschaft (die schon lange wussten, dass dank der
Wirtschaftspolitik des Herrn Mittag ihr Staat von der Substanz zehrt,
aber nie etwas dagegen zu sagen wagten), jetzt, wo's zu spät ist, einen
Verband der Unternehmensleiter gründen wollen. Hätten sie das doch
früher gemacht!
Es geht daher auch in dem eingangs zitierten Aufruf um kulturelle
Selbstbestimmung in Vielfalt, "progressive Entstaatlichung" - gegen
Gängelei, "nicht aber gegen staatliche Pflichten" (auf dem
Kultursektor), um eine "Kultur der industriellen Arbeit" und ein
"ökologisch geprägtes Kulturkonzept", um Aufwertung der Kommunen, neue
Medien- und Bildungspolitik, um das Einbringen der besonderen Züge der
DDR-Kultur in die aktuellen (auch europäischen) Prozesse. Und die
Künstler werden Wert darauf legen, dass Kultur kein "Trainingslager"
ist, sondern Basislager für den langen Marsch durch die "anständige"
Existenz, und Teil von ihr, nicht Hilfsmittel zu ihr.
Kulturpolitischer Diskussionsbedarf
Diesen komplexen Funktionen müssen neue Strukturen geschaffen
werden; Kulturpolitik (eine Vokabel, die manche in den osteuropäischen
Ländern nicht mögen) ist dazu aufgerufen. Die Aufgabe ist deswegen
schwierig, weil bisher Staat und Gesellschaft identisch schienen und
hinter den politischen Strukturen fast nur Vakuum ist:
Gesellschaftliche Kräfte waren weitgehend an Partei und Staat gebunden.
Notwendig sind neue institutionelle, rechtliche (und materielle) Rahmen
(z.B. Vereinsgesetz, Stiftungsgesetz usw.). Klaus Staeck hält ein
Mediengesetz für vordringlich, damit nicht Springer an die Stelle der
SED tritt. Investigativen Journalismus zu pflegen sei nötig; Strukturen
solle man überdenken, nicht unbedingt zerschlagen. Ähnlich wie Staeck
plädierte Freimut Duve dafür, den staatlichen Kulturbürokratien in Ost
und West nicht das Feld zu sehr zu überlassen. Die Kulturprojekte des
Kulturabkommens z.B., meint Duve, dürfen auf Dauer nicht durch das
Nadelöhr der staatlichen Zulassung gehen. Er schlägt daher eine
ständige Ost-West-Kulturkonferenz, getragen von den Kulturverbänden,
vor, und dies rasch, denn auch die Ökonomie hat's eilig.
Diskutiert wird über die Stärkung der Kommunen und ihre Ausstattung
mit eigenständiger kultureller Kompetenz. All das verlangt eine Menge
Arbeit und Erfahrung. Die "Kulturinitiative'89" plant daher weitere
kulturpolitische Veranstaltungen mit den Themen:
Staat und Kultur
Dezentral/zentral: Kommunale Kulturarbeit
Kulturelle Minderheiten
Die europäische Kultur-Dimension
Kulturindustrie.
Und nicht zuletzt, meint Kulturtheoretiker Helmut Hanke, steht die Gestaltung einer attraktiven linken Massenkultur an.
Die neue Offenheit
Die gegenwärtige Diskussion ist geprägt von Offenheit im doppelten
Sinne: Niemand hat die Ergebnisse schon in der Tasche (wie sonst so
gern bei "Diskussionen" im ehemaligen Sozialismus), und es gibt keine
Tabus. Allenfalls sind neue im Entstehen: Rainer Kirsch (DDR) warnt
davor, jetzt einen falschen Gott durch einen richtigen, "das Volk", zu
ersetzen. Er fragt: Wird man je wieder sagen können, dass auch das Volk
irren kann? Freimut Duve verteidigt daraufhin vehement das Prinzip der
demokratischen Mehrheitsentscheidung und gibt den Ball zurück: Ob
Mehrheiten irren, sei auch eine Frage des Engagements der Künstler.
Aber auch Duve möchte wohl kaum in der BRD die Frage der Todesstrafe
zur Abstimmung stellen. Kirsch (und ähnlich Volker Pfüller) präzisieren
später: Nicht alles könne man der Abstimmung unterwerfen; Künstler
beugen sich in ihrer Kunst keinen Mehrheiten.
Fertige Antworten hat niemand. Heiner Carow (Film-Regisseur, DEFA)
überkommen Gefühle hilfloser Aggressivität in der raschen Wende. Helga
Königsdorf bekennt sehr offen, sehr ehrlich: Dies war das Jahr, in dem
ich aus der Rolle fiel. Aus allen Rollen. Und: Meine Sehnsucht nach
Heimat, nach Geborgenheit hat mich mitschuldig gemacht. Ich wollte
dazugehören. Sie fühlt sich als Opfer und Täter gleichzeitig. Kunstwerk
und Revolution, Kunst und Leben sind vermischt. Dieser Sturz ist gut
für uns und andere; aber die Zeit der ersten schönen Empörung ist
vorbei. Auch jetzt gilt es, Strukturen zu zerschlagen, keine Menschen.
Und Gisela Oechelhaeuser sucht nach Selbstschutz gegen sich anbahnenden
Wahnsinn. Sie meint: Auch Helligkeit, weiß die Bibel zu berichten,
macht Angst, nicht nur Dunkelheit. Wir verstehen alles, und können doch
nichts begreifen. Sie erinnert sich an ihre Schmerz-Reaktion, als im
Fernsehen die 77 Namen derjenigen Künstlerinnen und Künstler vorgelesen
wurden, die weggegangen waren.
Identität und Ausverkauf
Das rührt auch an das Verständnis von dem, was als DDR-Identität
verstanden wird/werden kann. Es fragt der Maler Johannes Heisig: War es
vielleicht eine Segnung der Mauer und der von ihr produzierten
Käseglocken-Situation, dass sie es möglich machte, mit relativ geringem
Aufwand Beifall zu ernten? Jetzt, ohne Mauer, wird man mehr liefern
müssen. Vor dem Hintergrund dieser eigenen Tradition gilt es, Spezifik
und Unterschiede neu zu definieren. Und ein anderer benennt die
widerspruchsreiche Rolle der Staatsbürgerschafts-Diskussion: Immerhin
hat deren Nicht-Anerkennung durch die BRD erst die Dynamik der
Fluchtbewegung und damit die Reform in Gang gebracht. Roloff-Momin
benennt als West-Berliner die Scheu, sich einzumischen. Krista Tebbe
weiß: Andere zögern nicht, sich einzumischen. Neue DDR-Über-Ichs
entstehen. Und es gibt Beispiele positiven deutsch-deutschen
Erfahrungsaustausches (der ja keine Einmischung zu sein braucht): Der
Architekt Hardt-Waltherr Hämer aus West-Berlin, bekannt geworden durch
seine Sanierungen in Kreuzberg, warnt davor, die notwendigen
städtebaulichen Erneuerungen in Spekulations-Strukturen durchzuführen:
Es geht auch, wie in Kreuzberg bewiesen wurde, auf behutsame Weise und
ist dann sogar noch billiger.
Christoph Hein weiß: Die Städte in der DDR und in der BRD sehen, je
auf ihre Art, grausam aus. Unsere Leute werden nicht länger auf ihren
Wohlstand warten wollen, aber Geschenke werden teuer bezahlt. Wir
werden uns auf viele Geschäfte einlassen müssen, bei denen uns das Herz
blutet - eine Chance besteht freilich darin, dass jetzt nichts mehr
hinter dem Rücken der Öffentlichkeit geschehen kann.
Wir wollen endlich ran an den Kuchen - kann man das den Menschen in
der DDR und anderswo verdenken? Der Kulturwissenschaftler Helmut Hanke
spitzt zu: Die Banane soll nicht ins Staatswappen, er habe aber auch
nichts prinzipiell gegen Bananen, genauso wenig wie gegen Reisen. Gegen
Konsumismus könne man sein, brauche deswegen aber keinen Konsumverzicht
zu verlangen. Es gab, resümiert er, in der DDR keine Kraft, die
materielle Arbeiterinteressen offensiv vertrat - und jetzt wundere man
sich, wenn diese Arbeiter ihre Interessen selbst auf der Straße
vertreten. Die neue SED müsse die Interessen der auch in der DDR unter
schweren Bedingungen lebenden Arbeiter vertreten können.
Unterschwellig immer die Angst vor dem Ausverkauf. Stehen wir,
fragt Johannes Heisig, vor einem Trümmerhaufen? Muss man den
Sozialismus neu definieren? Muss man zur ökonomischen Rettung des
Landes die Wirtschaft verkaufen?
Oder: Findet ein Übergang zu marktwirtschaftlichen Formen statt in
einer Zeit, wo die Diskussion um die wirtschaftliche Rolle der Kultur
in der BRD nicht nur die dabei angewandten
wirtschaftswissenschaftlichen Theoreme problematisiert, sondern auch
erkennbar wird, dass boomende Einvernahme durchaus auch kulturelle
Wüsten hinterlassen kann (im Film z.B.)? Christoph Hein hofft, dass das
Volk der DDR besser begreifen wird, was Kapitalismus ist. Aber es hat
keine Übung in Demokratie, sieht im politischen Gegner gleich den
Feind. Und das kann schlimm werden, wo das Missverstehen, das
Nichtverstehen Quelle tragischer Konflikte werden kann.
Die Diskussion um die deutsche Einheit ist eine Phantom-Diskussion,
meint Klaus Staeck - sie steht nicht an. Der Dollar fällt, die DM
steigt - wer weiß, was uns das noch an Problemen bescheren wird.
Nationalistische Parolen verursachen "Ekel und Ratlosigkeit" (Göhler).
Aber aktuell wichtig ist's immerhin, zu vermeiden, dass im
"europäischen Haus" die neuen Mitglieder dank der bereits bestehenden
Strukturen über den Tisch gezogen werden.
Worum es auch noch geht
Die Änderungen in den sozialistischen Staaten scheinen
unvermeidlich, ausgehend von Gorbatschows einst angeblich vom
Geheimdienst empfohlenen Reformen zur Überwindung der Stagnationsphase
in der Sowjetunion. Nur die Formen unterscheiden sich noch. Selbst die
bessere ökonomische Situation der CSSR (die lange Zeit für eine
relative Isolierung der intellektuellen Reformer sorgte), selbst der
perfektionierte, vom Volk hermetisch abgetrennte omnipotente
Sicherheitsapparat Ceaucescus waren keine Hindernisse. So oder so, die
Karten in Europa werden neu gemischt. Vielleicht ist auch das Ergebnis
überhaupt nicht vom Zufall abhängig, sondern Produkt materieller
Verschiebungen. Europa emanzipiert sich von den USA, wird mit der SU
eine neue Großmacht, der die USA und Japan/China gegenüberstehen - mit
völlig neuen Konfliktpotentialen. Es gab einst Utopien der
Regionalisierung, der Aufteilung in viele Mittelmächte als eher
friedensfähige Konstellation - ist sie vorbei?
Wir sollten die neue europäische Situation nicht euro-borniert
sehen, sondern weltweit. "Globale Fragen" gehörten zu den zentralen
Motiven von Gorbatschows Reformen, wie sie zu Beginn noch deutlicher
und intensiver formuliert wurden als in jüngeren Phasen krisenhafterer
Entwicklungen (in denen es darum ging, rasch Löcher zu stopfen, und die
strategischen Orientierungen mehr in den Hintergrund traten). Aber die
Themen bleiben: Die Zukunftsaufgabe "dauerhafte Entwicklung" steht an;
notwendig ist eine ökologisch geprägte Überlebenskultur als attraktive
Form. Nichts gegen Bananen, wenn sie ohne zerstörerische Folgen
produziert, angemessen bezahlt und gerecht (bzw. human) verteilt
werden. Unsere Wünsche sind vielleicht heute bescheidener als Herbert
Marcuses Frage vom Vietnam-Kongress 1966, der noch auf eine
nicht-kapitalistische Industrialisierung der Dritten Welt hoffte [Ralf
Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. München: 1988, S. 681). Wir
begnügen uns mit "dauerhafter Entwicklung" - aber auch sie ist wohl
kaum denkbar ohne soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden. Freimut
Duve hat bei der Berliner Konferenz daran erinnert, dass Kapital nach
Rendite und Risikoprämie, nach Markt und Kaufkraft fragt, und es
schwärmt davon (er zitiert dazu aus einer Holtzbrinck-Zeitung), die
Faszination der 80er Jahre in die 90er zu verlängern - und das
bedeutet, die Probleme, die z. B. Biedenkopf in seinem Buch
"Zeitsignale" (München 1989) thematisiert hat, noch einmal eine
Wachstumsphase vor sich her schieben zu können, noch einmal eine Frist
zu haben. Es scheint, die Chancen stehen schlecht für eine vernünftige,
perspektivische Politik: Der Rausch des Wachstums lässt dafür keinen
Raum. Oder?
Man wird ja wohl einmal darüber nachdenken dürfen
Die Konstellationen sind ja andererseits eigentlich nicht schlecht:
Die schlimmste Gefahr des atomaren Krieges in Europa ist zunächst
einmal gebannt. Wir haben uns das ja nicht nur vorgemacht, damals, in
den frühen 80ern: Atomkrieg führen und gewinnen, Atomkriegsschauplatz
Europa ("Besucht Europa, solange es noch existiert!"), dem sowjetischen
Huhn den Kopf abschlagen, Fulda-Gap-Planspiele, und was da noch alles
an perversen Militärstrategien existierte. Heute läuft ein
Air-Land-Battle-Konzept ins Leere.
Es waren, so ist zu vermuten, politische Einsichten in den
militärischen Sackgassen-Charakter der Atomrüstung, die als Faktor für
das Umdenken eine Rolle spielten - wir können das bei McNamara
nachlesen. Es waren Forschungen über den "atomaren Winter", die die
Absurdität der Vorstellung eines "Sieges" im Atomkrieg erkennbar
machten; es waren die unbezahlbaren Kosten, welche das
"Krieg-der-Sterne"-Projekt zu Müll werden ließen. Und es war unsere
Friedensbewegung, die dies alles publikumswirksam verbreitet hat, zum
unübersehbaren Allgemeinbesitz der politischen Diskussion nicht nur bei
uns gemacht hat und damit zur Fundierung einer solchen Politik
beigetragen hat.
Das ist Faktor eins: Der unmittelbare Druck der Kriegsgefahr in
Europa ist genommen (es gibt trotzdem immer noch viel zu tun), und nur
in diesem Klima konnten die Veränderungen in Osteuropa vor sich gehen.
Frieden ist nicht alles - aber alles ist nichts ohne Frieden, haben wir
damals gesagt. Vielleicht müssen wir uns jetzt mehr Gedanken über den
ersten Teil des Satzes machen.
Zweiter Faktor: Der europäische Boom. Unabhängig von der Frage, was
in den osteuropäischen Staaten von "Sozialismus", von den
humanistischen Prinzipien einer von der Politik im Sinne der
Lebensinteressen der Menschen gesteuerten Wirtschaft übrigbleibt,
unabhängig von der Entwicklung des Gegensatzes USA - Europa, wird es in
Gesamteuropa einen gewaltigen wirtschaftlichen Boom geben.
Es wird ein eurochauvinistischer Boom sein, von dem andere wenig
profitieren werden. Ist es nur ein neuer kräftiger Schluck aus der
Pulle, eine Dosis der süchtig machenden Droge Wachstum, die keine
Probleme löst? Vielleicht, angesichts der ökologischen Probleme, sogar
der "goldene Schuss"?
Oder liegt darin auch eine Chance? Biedenkopf hat darauf
hingewiesen, dass ohne Wachstum unsere Gesellschaft bisher keine
Reformkapazität besitzt, und dass sie selbst mit Wachstum ihre Probleme
weitgehend vor sich her schiebt.
Das bedeutet aber umgekehrt: Wenn es eine Chance für Reformen gibt,
dann in einer Situation des Wachstums - sofern die politischen Kräfte
dafür da sind.
Ein dritter Aspekt: Wer, wenn nicht wir, kann Ansätze für eine
Politik und Lebensweise der ,,dauerhaften Entwicklung" formulieren und
praktizieren? Der Brundtland-Bericht betont, dass der Druck auf die
Umwelt in vielen Teilen der Welt dann am stärksten wird, wenn Armut die
Menschen zwingt, zur Überwindung des Hungers ihre Ressourcen zu
zerstören (dass es in vielen, vielleicht den meisten Fällen der
Weltmarkt ist, der kräftig daran mitwirkt, dass wir darüber indirekt
profitieren, und dass unser hemmungsloser Luxus seinerseits mit
Ressourcen unmittelbar zerstörerischen Raubbau betreibt, darf nicht
verschwiegen werden). Es bleibt freilich: Die
technisch-wissenschaftlichen Kapazitäten, um neue Energieformen,
umweltfreundliche und zu "dauerhafter Entwicklung" fähige Technologien
zu gestalten, sind in hohem Maße bei uns versammelt (sicher finden
entsprechende Prozesse nicht im Selbstlauf statt, und sicher erwächst
viel der notwendigen Kreativität erst aus der hautnahen Konfrontation
mit den gravierendsten Problemen. Aber das ändert nichts am
prinzipiellen Verhältnis).
Und ferner: In den wohlhabenden Staaten waren Menschen bisher
bereit, Teile ihrer Lebensgewohnheiten, ihrer Lebensweise in Ansätzen
umzustellen. Sie können es sich leisten, etwas mehr für bessere
"biologische" Nahrung auszugeben, sie können der Kultur ihres Körpers,
ihrer Gesundheit mehr Zeit widmen. Schon beim Transport, bei der
Fortbewegung hört's dann meistens auf - aber immerhin!
Hier eher als bei denjenigen, die jetzt das Gefühl haben, sie
müssten Versäumtes nachholen (wie die Osteuropäer), ist auch die
mentale Bereitschaft zu erkennen, in die Lebensqualitäts-Definition
Aspekte ökologischer Verantwortung einzubeziehen (in der DDR z.B. ist
noch offen, wieweit jenes ökologische Bewusstsein, das aus einem großen
unmittelbaren Problemdruck und aus den ethischen Impulsen der
kirchlichen Umweltbewegung resultiert, politikfähig und -relevant
bleiben wird).
Frieden hat eine Chance; Wachstum kann qualitativ gewendet werden;
wer, wenn nicht wir, kann es sich leisten, Ansätze einer ,,dauerhaften
Entwicklung" zu praktizieren? Das sind die drei Komponenten möglicher
positiver Entwicklungen.
Sicher, das ist alles sehr labil - schon der aus der
Chaos-Forschung bekannte "Schmetterlings-Effekt" kann völlig neue
Situationen erzeugen: Wenn etwa winzige Ereignisse in irgendeinem
sowjetischen oder balkanesischen Territorium Auslöser von größeren
Destabilisierungs-Effekten sind, werden viele der notwendigen Potenzen
anderweitig gebunden (aber höchst instabil war ja auch das
Rüstungsgleichgewicht). Aber immerhin, wir werden ja wohl auch einmal
die Chancen durchspielen dürfen.
Nichts geht im Selbstlauf; notwendig sind politische Potenzen. Das
wäre dann aber auch die Konsequenz aus unseren Überlegungen: Wenn denn
die Chance genutzt werden können soll, dann nur mit entsprechendem
politischem Hintergrund, ja Druck. Und damit sind wir bei den
anstehenden Aufgaben: Sie bleiben uns bestehen.
Bei der Berliner Diskussion wandte sich Thomas Krüger gegen linke
Melancholie; Adrienne Göhler (Hamburg) wollte nicht die Freude über die
Veränderungen allein den Rechten überlassen. Wird's möglich sein?
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