Zeitdokument | Kulturation 2/2004 | Archiv der KulturInitiative’89 | Beratung über die mögliche Gründung einer kulturpolitischen Vereinigung in der DDR am 11. November 1989 in Berlin | KulturInitiative’89
Historisches Dokument Nr. 1
|
Beratung über die mögliche Gründung einer kulturpolitischen Vereinigung in der DDR am 11. November 1989 in Berlin
(Vorbereitendes Papier von Mühlberg, verschickt am 6. November als
Grundlage des Gesprächs am 11. 11. 1989 an: Lothar Bisky, Thomas
Flierl, Horst Groschopp und Helmut Hanke)
Nötig:
Verständigung über die Motive
Verständigung über die Verfahrensweise
Verteilung der Aufgaben
Im einzelnen sind für die Gründung zu entscheiden bzw. vorbereiten:
Programmatische Erklärung (Grundsatzpapier)
Satzung / Statut
Presseerklärung
Brief zur Vorinformation der erwünschten Gründungsmitglieder
Vorschläge für den Namen
Struktur des Vorstands
Angestrebte Funktionsverteilung
Mitglieder des Vorbereitungskomitees
eventuelle Anbindungen
Finanzierung
Beabsichtigte Aktivitäten
-Mitteilungsblatt
-Zeitschrift
-Veranstaltungen, Kongresse
-Forschungsaufträge
-Forschungsabstimmung
-kulturpolitische Konzepte
- Beziehungen zu anderen Gesellschaften in der DDR u.
außerhalb
Gründungstermin, Gründungsort, Teilnehmerkreis
Ablaufplan
-Sitzung
-Pressekonferenz
-Fete
-Künstler
Zu den Motiven und Arbeitsfeldern (erste Notizen)
1. Zur Reform des politischen Systems der DDR gehört es, daß neue
Möglichkeiten entstehen müssen, soziale Interessen auszudrücken, in der
Öffentlichkeit geltend zu machen und Entscheidungen zu beeinflussen.
Das muß auch für das kulturelle Leben gelten. Für diesen Bereich
erwarten wir neue Formen der Mitwirkung und der Selbstorganisation,
eine starke Differenzierung der Gruppierungen, Gesellschaften und
Vereine - neben den Parteien und dem Staat. Sie werden die
"Einheitsorganisationen" ergänzen oder ablösen.
2. In den Volksvertretungen und Verwaltungen, in den Gewerkschaften
und in den Betrieben, in den örtlichen Kulturinstituten und in den
Medien, in Künstlergruppen und Künstlerverbänden, in den
Bildungseinrichtungen und Forschungsstellen sind in den letzten Jahren
immer wieder Verfechter einer bürgernahen Kulturarbeit, kreativer
Möglichkeiten im Alltag, neuer Formen der Selbstdarstellung und der
kulturellen Interessenwahrnehmung, aufgetreten und haben für eine
sozialistische Kultur demokratischen Charakters eingestanden. Sie
richteten sich damit gegen die einseitige Ausrichtung auf die
überkommene Repräsentationskultur, gegen die Entpolitisierung des
geistigen Lebens, gegen die Unterdrückung Andersdenkender - vor allem
auch derer, die sich für ein zeitgemäßes Konzept sozialistischer Kultur
einsetzten. Sie vereinigen sich in der "Kulturpolitischen
Gesellschaft", um mit politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen,
journalstischen und finanziellen Mitteln für ihre kulturellen Ziele
einzutreten.
3. Das wichtigste Motiv für diesen Zusammenschluß ist die
allgemeine Unzufriedenheit mit der kulturellen Situation in der DDR;
auf allen Gebieten beträchtliche Versäumnisse aufgrund von
Fehlorientierungen und Inkonsequenzen. Sie sind eine der Ursachen für
die gegenwärtige Krise. Mangel an Identifikation mit der
DDR-Gesellschaft hat großenteils kulturelle Ursachen.
4. Besonders prekär ist die kulturelle Situation der Städte und
Gemeinden. Neben dem allgemeinen baulichem Verfall, dem Schwund an
kulturellen Einrichtungen und der Verödung der Öffentlichkeit ist hier
vor allem die Verhinderung von vielfältiger "kultureller Subjektivität"
zu beklagen. Die "Kulturpolitische Gesellschaft"
5. Vereinswesen versus zentral geleitete Massenorganisationen
6. Die dezentralen Wirkungen aller Künste (im kulturellen Leben)
7. Die großen Medien und ihre Umgestaltung
8. Die neuen Medien und die veränderte kulturelle Kommunikation.
9. Das Erbe und die deutsche Nation (wichtigste Kraft der
sozialistischen Tendenzen in der deutschen Nationalkultur - Bündnis der
"Linken" in den deutschen Staaten und in Europa)
10. Aufgaben in der Wissenschaft
11. Aufgaben in der Berufsausbildung
12. Berufsverband sozialistisch orientierter "KulturarbeiterInnen"
Erste Notwendigkeit:
Geschichtliche Aufarbeitung der eigenen Herkunft und Darstellung der großen Linien seit 1945.
Dazu ein Vorschlag
1945: Besiegte und Befreite, Umerziehung und Aufklärung.
Verständnisvolle Kunstpolitik, harte Repression gegen alle, die das Machtmonopol der berechtigten Minderheit nicht wollten.
Erziehungsdiktatur mit bürgerlichem Humanismus (Humanität und Toleranz!). Erweckung und Wandlung.
Stalinsche Geschmacksdiktatur und vorindustrielle Konventionen der
SU verbunden mit kultursozialistischen Idealen (Kulturtagung KPD
2/1946: Die Kunst dem Volke). Seitdem: kulturelles Erbe, Konservierung.
Anfang von "Tradition und Neuerertum". Aber auch noch: Pluralismus der
Übergangszeit, bald von kulturpolitischer Militanz der SED abgedrängt.
Ihre Kernthese: führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei auf
allen kulturellen Gebieten. Kulturrevolution: hier endlich allmächtig
sein, alles andere ausschalten.
Wissenschaft und Kritik beginnen mit der Propagierung des
kulturpolitisch Erwünschten. Dies wird bald ihre wesentliche Aufgabe.
Unterstützt die jeweils politische Unterdrückung der als politische
Gegner definierten Abweichler.
Bis in die 60er Jahre: Deutschland-Anspruch.
Zunächst als Kampf um die kulturelle Einheit
Dann: Sozialismus als Beispiel für ganzes Deutschland
Mauerbau verändert die Lage: auf die inneren Gestaltungen verwiesen.
"Ankunftsliteratur", Hinwendung zum sozialistischen Alltag. In der
Wissenschaft: Konzepte individueller Subjektivität. Analog in den
Künsten: weg von den äußeren Aufträgen, hin zur selbstbestimmten
Künstlerindividualität.
1971 flexibleres Kultur- und Bündniskonzept. Militanz der
Erziehungsdogmatiker weicht größerem Verständnis für indivuelle Lebens-
und Schaffensansprüche. Kein tabu für Künstler. Kontrolle großzügiger,
aber die Ämterwillkür blieb - Eingaben und Ausnahmen, Zugeständnisse
und Privilegien, Unterdrückung und Berufsverbot. Freigesetzte
Kulturtendenzen konnten in diese Struktur nicht integriert werden.
1976: Macht setzt sich durch, Biermann-Ausweisung und Reaktionen haben
Symbolcharakter.
Kulturbestimmende Intelligenzschichten immer stärker zu radikalen
Reformen tendierend. Überalterte Führung hat zwangsläufig kein
Verständnis. Machtsicherung verlangt flexiblere Taktik: milde
Zurückweisung und Schweigen (Hans Koch vorschicken, selbst wieder
verständnisvoll glätten). Dafür großer Einsatz für die
Repräsentationskultur: Wiederaufbauleistungen. Der Rest verkommt.
|
| |