KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ZeitdokumentKulturation 2/2004
Archiv der KulturInitiative’89
Beratung über die mögliche Gründung einer kulturpolitischen Vereinigung in der DDR am 11. November 1989 in Berlin
KulturInitiative’89 Historisches Dokument Nr. 1

Beratung über die mögliche Gründung einer kulturpolitischen Vereinigung in der DDR am 11. November 1989 in Berlin
(Vorbereitendes Papier von Mühlberg, verschickt am 6. November als Grundlage des Gesprächs am 11. 11. 1989 an: Lothar Bisky, Thomas Flierl, Horst Groschopp und Helmut Hanke)

Nötig:
Verständigung über die Motive
Verständigung über die Verfahrensweise
Verteilung der Aufgaben

Im einzelnen sind für die Gründung zu entscheiden bzw. vorbereiten:

Programmatische Erklärung (Grundsatzpapier)
Satzung / Statut
Presseerklärung
Brief zur Vorinformation der erwünschten Gründungsmitglieder
Vorschläge für den Namen

Struktur des Vorstands
Angestrebte Funktionsverteilung
Mitglieder des Vorbereitungskomitees
eventuelle Anbindungen
Finanzierung

Beabsichtigte Aktivitäten
-Mitteilungsblatt
-Zeitschrift
-Veranstaltungen, Kongresse
-Forschungsaufträge
-Forschungsabstimmung
-kulturpolitische Konzepte
- Beziehungen zu anderen Gesellschaften in der DDR u.
außerhalb

Gründungstermin, Gründungsort, Teilnehmerkreis
Ablaufplan
-Sitzung
-Pressekonferenz
-Fete
-Künstler

Zu den Motiven und Arbeitsfeldern (erste Notizen)

1. Zur Reform des politischen Systems der DDR gehört es, daß neue Möglichkeiten entstehen müssen, soziale Interessen auszudrücken, in der Öffentlichkeit geltend zu machen und Entscheidungen zu beeinflussen. Das muß auch für das kulturelle Leben gelten. Für diesen Bereich erwarten wir neue Formen der Mitwirkung und der Selbstorganisation, eine starke Differenzierung der Gruppierungen, Gesellschaften und Vereine - neben den Parteien und dem Staat. Sie werden die "Einheitsorganisationen" ergänzen oder ablösen.

2. In den Volksvertretungen und Verwaltungen, in den Gewerkschaften und in den Betrieben, in den örtlichen Kulturinstituten und in den Medien, in Künstlergruppen und Künstlerverbänden, in den Bildungseinrichtungen und Forschungsstellen sind in den letzten Jahren immer wieder Verfechter einer bürgernahen Kulturarbeit, kreativer Möglichkeiten im Alltag, neuer Formen der Selbstdarstellung und der kulturellen Interessenwahrnehmung, aufgetreten und haben für eine sozialistische Kultur demokratischen Charakters eingestanden. Sie richteten sich damit gegen die einseitige Ausrichtung auf die überkommene Repräsentationskultur, gegen die Entpolitisierung des geistigen Lebens, gegen die Unterdrückung Andersdenkender - vor allem auch derer, die sich für ein zeitgemäßes Konzept sozialistischer Kultur einsetzten. Sie vereinigen sich in der "Kulturpolitischen Gesellschaft", um mit politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen, journalstischen und finanziellen Mitteln für ihre kulturellen Ziele einzutreten.

3. Das wichtigste Motiv für diesen Zusammenschluß ist die allgemeine Unzufriedenheit mit der kulturellen Situation in der DDR; auf allen Gebieten beträchtliche Versäumnisse aufgrund von Fehlorientierungen und Inkonsequenzen. Sie sind eine der Ursachen für die gegenwärtige Krise. Mangel an Identifikation mit der DDR-Gesellschaft hat großenteils kulturelle Ursachen.

4. Besonders prekär ist die kulturelle Situation der Städte und Gemeinden. Neben dem allgemeinen baulichem Verfall, dem Schwund an kulturellen Einrichtungen und der Verödung der Öffentlichkeit ist hier vor allem die Verhinderung von vielfältiger "kultureller Subjektivität" zu beklagen. Die "Kulturpolitische Gesellschaft"

5. Vereinswesen versus zentral geleitete Massenorganisationen
6. Die dezentralen Wirkungen aller Künste (im kulturellen Leben)
7. Die großen Medien und ihre Umgestaltung
8. Die neuen Medien und die veränderte kulturelle Kommunikation.
9. Das Erbe und die deutsche Nation (wichtigste Kraft der sozialistischen Tendenzen in der deutschen Nationalkultur - Bündnis der "Linken" in den deutschen Staaten und in Europa)
10. Aufgaben in der Wissenschaft
11. Aufgaben in der Berufsausbildung
12. Berufsverband sozialistisch orientierter "KulturarbeiterInnen"

Erste Notwendigkeit:
Geschichtliche Aufarbeitung der eigenen Herkunft und Darstellung der großen Linien seit 1945.
Dazu ein Vorschlag

1945: Besiegte und Befreite, Umerziehung und Aufklärung.
Verständnisvolle Kunstpolitik, harte Repression gegen alle, die das Machtmonopol der berechtigten Minderheit nicht wollten.
Erziehungsdiktatur mit bürgerlichem Humanismus (Humanität und Toleranz!). Erweckung und Wandlung.

Stalinsche Geschmacksdiktatur und vorindustrielle Konventionen der SU verbunden mit kultursozialistischen Idealen (Kulturtagung KPD 2/1946: Die Kunst dem Volke). Seitdem: kulturelles Erbe, Konservierung. Anfang von "Tradition und Neuerertum". Aber auch noch: Pluralismus der Übergangszeit, bald von kulturpolitischer Militanz der SED abgedrängt. Ihre Kernthese: führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei auf allen kulturellen Gebieten. Kulturrevolution: hier endlich allmächtig sein, alles andere ausschalten.

Wissenschaft und Kritik beginnen mit der Propagierung des kulturpolitisch Erwünschten. Dies wird bald ihre wesentliche Aufgabe. Unterstützt die jeweils politische Unterdrückung der als politische Gegner definierten Abweichler.

Bis in die 60er Jahre: Deutschland-Anspruch.
Zunächst als Kampf um die kulturelle Einheit
Dann: Sozialismus als Beispiel für ganzes Deutschland
Mauerbau verändert die Lage: auf die inneren Gestaltungen verwiesen.

"Ankunftsliteratur", Hinwendung zum sozialistischen Alltag. In der Wissenschaft: Konzepte individueller Subjektivität. Analog in den Künsten: weg von den äußeren Aufträgen, hin zur selbstbestimmten Künstlerindividualität.

1971 flexibleres Kultur- und Bündniskonzept. Militanz der Erziehungsdogmatiker weicht größerem Verständnis für indivuelle Lebens- und Schaffensansprüche. Kein tabu für Künstler. Kontrolle großzügiger, aber die Ämterwillkür blieb - Eingaben und Ausnahmen, Zugeständnisse und Privilegien, Unterdrückung und Berufsverbot. Freigesetzte Kulturtendenzen konnten in diese Struktur nicht integriert werden. 1976: Macht setzt sich durch, Biermann-Ausweisung und Reaktionen haben Symbolcharakter.

Kulturbestimmende Intelligenzschichten immer stärker zu radikalen Reformen tendierend. Überalterte Führung hat zwangsläufig kein Verständnis. Machtsicherung verlangt flexiblere Taktik: milde Zurückweisung und Schweigen (Hans Koch vorschicken, selbst wieder verständnisvoll glätten). Dafür großer Einsatz für die Repräsentationskultur: Wiederaufbauleistungen. Der Rest verkommt.