Zeitdokument | Kulturation 2014 | Redaktionsarchiv Kulturation | Rückblick aus dem Jahre 2000 - Erinnerungen an die "Zwischenrede" von 1989 |
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in der Rubrik "Zeitdokumente" veröffentlicht die Redaktion von
Kulturation das Wortprotokoll einer deutsch-deutschen Kulturdebatte,
die vor 25 Jahren stattgefunden hat ("Zwischen-Rede 1989"). Ergänzt
wird dieses kulturhistorische Dokument durch die hier eingestellten
rückblickenden Kommentare von Teilnehmern dieser deutsch-deutschen
Begegnung. Sie sind von der Redaktion zum 10. Jahrestag des Ereignisses
erbeten worden und konnten damals nicht publiziert werden. Sie sind
nach weiteren 15 Jahren inzwischen selbst zu historischen Dokumenten
geworden.
Horst Groschopp
Kulturdialog – Kurzer Kommentar zur „Zwischenrede“ von 1989
Heute vor zehn Jahren, am 22. Dezember 1989, fand in Berlin, im
großen Saal der Akademie der Künste Ost, die „Zwischenrede“ statt.
Damals zu viel erwartet? Das Falsche befürchtet? Alles dies zwischen
Fatalismus und Aktionismus. Rückerinnerung bedeutet, dieses Ereignis
aus einem Bündel von anderen heraus zu schälen, zum Beispiel der
Öffnung des Brandenburger Tores am gleichen Tag. Weihnachten stand
bevor, Tage der Besinnung ankündigend. (Es wird der rumänische
Conducator erschossen werden; die Bilder, wie es ausgehen kann, warnend
auf dem Fernsehschirm.)
Es war ein Freitag. Am Montag zuvor waren die wöchentlichen
Demonstrationen endgültig in ihren Parolen umgeschlagen in Richtung
Wiedervereinigung. Weizsäcker hatte wenige Tage davor Modrow getroffen.
Das Signal stand deutlich sichtbar auf Einheit. Die Fragen waren jetzt
konkreter zu stellen: wie, zu welchem Preis, was mitnehmen?
Das Ereignis in der Akademie der Künste Ost, es verlief seltsam
diszipliniert. Die Anwesenden nahmen die Vorgänge – so könnte man es
formulieren – gefasst auf, aber auch wie die Ruhe vor einem Sturm, den
alle befürchten. Außerhalb der Akademie, in den Medien und Betrieben,
hielten die Selbstbezichtigungen und Anklagen noch an. Freies Reden
überall. Ziemliche Gewissheit bei fast allen, die im Raum sprechen, der
einem medizinischen Hörsaal gleicht. Man hört gebündelte
Lebenserfahrung, doch unterschiedliche Verkündigungen. Diskutanten aus
Ost und West, ohne Absprache irgendwie abwechselnd. Nie wieder wird das
so sein. Gesprochen wird voller Illusionen und mit Endzeitwarnungen
über das, was dann wirklich anders kam. Dabei die ostdeutsche
Künstlerschaft im Hochgefühl, im Rücken den 4. November, die große
Demonstration. (Wer da alles aus den Partei- und Staatsapparaten
mitlief!)
Ulrich Roloff-Momin, der spätere unglückliche Kultursenator, und
Gisela Oechelhaeuser, deren Unglück erst Jahre später eintritt, leiten
bestimmt, einfühlsam und sind Dame und Herr der bunten Versammlung. Das
Haus ist proppenvoll, ein ständiges Kommen, wenige gehen wieder; alles
verläuft ruhig, vor allem, wenn jemand spricht. Eine großartige
Aufführung. Wenn man nur die historische Stunde gefühlt hätte: Das gibt
es nie wieder, so viele Künstler unterschiedlicher Genre in einem Saal.
Aber wieso hätte man dies ahnen sollen? Es gab ja in dieser Zeit
pausenlos Aufregendes: Gerade erst ein gestürztes ZK; gerade Christa
Wolfs und anderer Aufruf „Für unser Land“. Und die Arbeiterschaft
begann, sich zu melden. Sie fordern nicht ihre Betriebe, sondern
ordentliches Wirtschaften, mehr Geld und: die Bonzen raus, besonders
die der „Arbeiterpartei“ und der Gewerkschaft. Aber der Aufruf des
Neuen Forums zum Generalstreik ist endgültig gescheitert.
Die Tagung war ein Produkt der KulturInitiative '89, die damit an
die Öffentlichkeit trat und zunächst ein gemischter Ost-West-Laden war.
Da war sie noch nicht Verein, jedenfalls nicht so richtig. Sie wollte
aber die KuPoGe [Kulturpolitische Gesellschaft] der DDR werden, wie
alle irgendetwas gründeten, um endlich alles anders zu machen. Doch
Dietrich Mühlberg verkündete zugleich: Dieser Klub soll nie einen
Apparat bekommen (was ja eingetreten ist).
Wesentlich von Roloff stammte das Motto „Zwischenrede“. Es wurde in
langem Hin und Her mit „Gustav“ (Hardt-Waltherr Hämer) und Krista Tebbe
in deren Räumen des Kunstamtes Kreuzberg gebastelt. Thomas Flierl war
dabei, wenn er konnte, noch im Kulturministerium angestellt. Er
verstreute pausenlos Problembewusstsein und Adressen Ost, alles
haufenweise. Jedenfalls blieb hängen: so einfach wird das nicht gehen
mit der Einheit, schon gar nicht im Kulturbereich. Das war schon viel
in jenen Tagen. (Krista Tebbe wird daraufhin Hermann Glaser anrufen und
der wird Dieter Sauberzweig anrufen und es wird eine Tagung dazu
vorbereitet.)
Hin und wieder kann Katja Jedermann an den Sitzungen teilnehmen,
die Künstlerin mit der Fähigkeit zum theoretischen und politischen
Streit, leise, aber grundsätzlich und immer vom Künstlersein ausgehend.
„Bibi“ (Joachim Günther), Abgeordneter der SPD, ganz anders, wie auch
Christiane Zieseke, im Westberliner Kulturapparat tätig. Sie sind in
dieser Zeit der ruhende Pol des Teams und ganz praktisch: Wie ist mit
wem wann worüber zu reden?
Günther ist der aufgeklärte Parteimensch, Kräfteparallelogramme
wertend. Er problematisiert früh einen politischen Druck, der die
Folgezeit prägt. Aber noch ist nicht entschieden (jedenfalls nicht
bekannt), ob die ostdeutsche SDP auch sozialdemokratische SED-Leute
aufnimmt. (Sie wird verneinen, dass es das gibt.) Zwei Tage zuvor noch
hatte die Bundes-SPD ein neues Parteiprogramm angenommen – da wird noch
mit der DDR gerechnet.
Ich selbst war mit vielem, vor allem mit der Vorbereitung des
ersten Berlin-Berliner-Diskurses (des ersten deutsch-deutschen) über
kommunale Kulturarbeit beschäftigt. Das Treffen fand dann im Januar '90
zuerst im Thälmannpark, dann im Kunstamt Kreuzberg statt. Rein vom
Verkehr aus gesehen komplizierte Kontakte mit Reinhard Gericke und dem
Institut für soziale Demokratie, dem Partner der KI '89 bei dieser
Tagung. Die Konferenz könnte platzen, da der Direktor des Prater, wo
sie ursprünglich stattfinden soll, einige Tage nach dem Fall der Mauer
in den Westen geflüchtet ist und im SPD-Parteihaus Wedding Asyl
gefunden hat; vertrauensfördernde Maßnahmen: Gespräche mit ihm über
Gericke als Vermittler.
Nützlich für die geplante Tagung am Rande der Teamrunden die
Gespräche mit Krista Tebbe über „Kulturarbeiter“. Kreuzberg hatte
soeben eine (!) Stelle geschaffen, die sogar so hieß. Flierl nennt die
Zahlen Ost: großes Erschrecken West. Ich versuche eine „Theorie“
darauf.
Tagen will die „KulturInitiative“ nur im Westen. Erstens gibt es
die Mauer noch. Zweitens die Grenzabfertigungen. Drittens kommt man zu
dieser Zeit schneller vom Osten in den Westen als umgekehrt: noch ist
nicht alles geregelt, was dann sehr fix überflüssig wird. Viertens:
Telefonieren zwischen den beiden Stadthälften eine Tortur. Doch vor
allem fünftens: Wie soll man im Osten und vom Osten aus so ein Event
organisieren?
Die Ostmenschen im Vorbereitungsteam lernen im Kunstamt, in der
HdK, bei „Gustav“ zu Hause: da nimmt man das Fax, da den PC, dort eine
Hilfskraft; Telefone sind verbindliche Verabredungsinstrumente;
unterschrieben wird erst, wenn das letzte Komma an der richtigen Stelle
steht – das sind keine Verzögerungen des revolutionären Fortgangs der
Ereignisse, sondern Beschleuniger der Herstellung übereinstimmender
Auffassungen. Da nimmt man es ganz genau. Das Individuum hat etwas zu
verlieren. Kein Kratzen am guten Namen, Dreck geht nie mehr weg. (Das
schert den Ostmenschen weniger, immer wieder werden dunkle Ahnungen
geäussert, was alles demnächst passieren kann. Besonders Mühlberg tut
sich als Seher hervor. Es kam ja dann immer zwei bis drei Grade
grundsätzlicher.)
Die „Zwischenrede“ hieß ja nicht nur so, weil da jemand irgendwie
Einspruch erhebt oder weil ein Moment in einem Prozess fest gehalten
werden sollte. Daran hätten sich Roloff und Hämer nicht so lange mit
dem Thema aufgehalten. Nein, alle in der Vorbereitungsgruppe gingen
tatsächlich ganz selbstverständlich von der Existenz zweier Kulturen in
Deutschland aus. Das war eine Tatsache, die Gewissheit: Reden zwischen
den Kulturen; zwei Seiten reden miteinander; Kulturen sind sich
schließlich fremd.
Es hat nach diesem Ereignis sehr lange gedauert und noch immer gibt
es einige Schwierigkeiten, dies so zu sehen, bis wieder von zwei
deutschen Kulturen, unterschiedlichen Mentalitäten und differenten
Auffassungen von Kultur geredet werden konnte. Erst einmal war die
„Kulturnation“ dran als eingebildeter Kitt der Einheit.
Zu viel erwartet? Das Falsche befürchtet? Man wusste mehr (genauer:
es schwante einem mehr), als Bereitschaft bestand – auch psychisch und
politisch sowieso – die Lage und den Verlauf anzuerkennen. Dabei war
mir selbst doch alles gesagt worden schon am 18. Oktober 1989 abends in
Dortmund bei einem Umtrunk nach einem Vortrag von Kurt Koszyk über
Arbeiterpresse, zu dem Hans Mommsen eingeladen hatte. Ein Bote
verkündet, Honecker sei abgesetzt. Na, Herr Groschopp, was wird jetzt
aus der DDR? Na ja, diese und jene Errungenschaft werden die Arbeiter
vielleicht behalten wollen. Konföderation scheint der Weg. Mommsen:
Kann sein, aber sehen Sie, „Antifaschismus“ war nicht erfolgreich, die
DDR als dauerhaften zweiten deutschen Staat nach innen und außen zu
legitimieren; „Kultur“ auch nicht und eigene „Nation“ schon gar nicht.
Wenn die Russen Sie fallen lassen, dann Gnade Ihnen Gott. Geschichte
ist nach vorn offen. – Es folgt rege Debatte. Darunter ein Kollege: Es
wird wohl besser sein, ich warte mit dem joint venture mit der Dresdner
Kaffeefabrik, die mal meinem Vater gehört hat. Jetzt will ich sie
wieder haben.
Anna Elmiger
10 Jahre später.
Meine Sorge und meine Angst sind gewachsen.
Es gab inzwischen einen großen Zapfenstreich am Brandenburger Tor.
Die neuen Nazis sind durch das Brandenburger Tor marschiert.
Schlaglichter auf eine Entwicklung, die bedrohlich ist.
Das Brandenburger Tor;
Wahrzeichen Berlins;
ein Triumphtor, ein kriegerisches Symbol.
Das vereinigte Deutschland hat doch auch andere, schöne Seiten!
Es hätte andere Wahrzeichen und Symbole verdient;
oder sogar nötig.
Rainer Höynck
Identität - vom Umtausch ausgeschlossen
Das mit den ,,blühenden Landschaften" hätten wir dem Zufallskanzler
der ohne sein Verdienst ausgebrochenen Einheit von Anfang an nicht
durchgehen lassen dürfen. Die Enttäuschungen wären wohl milder
ausgefallen ohne die Fallhöhe von übertriebenen Erwartungen zu besserem
Augenmass.
Für Schadenfreude und Rechthaberei ist die Sache aber zu ernst, die
Aufgabe zu wichtig: bessere Verständigung zwischen Ossis und Wessis,
was nur geht wenn die Parole vom längst eingetretenen Ende der
Unterschiede verstummt, wenn das Schönreden der Folgen von vier
Jahrzehnten deutsch-deutschen Auseinanderdriftens abgelöst wird von
nüchterner Einschätzung. Vielleicht kann noch hinzugefügt werden, dass
Verdrängungen und Verleugnungen von Tatsachen eine explizit
konservative Gesinnung verraten. Aber so genau lässt sich die Grenze
zwischen eher linker kritischer Grundhaltung und eher rechter
emotionaler Unschärfe nicht ziehen. Helmut Kohl konnte ja nie als
Intellektueller eingeschätzt werden; dieses Defizit teilt er mit
manchen Kollegen auch von den anderen Flügeln der Parteipolitik.
Also zehn Jahre zu spät für klaren Blick und sorgsame Strategien?
Nein, es wäre nie zu spät, wenn die Richtung stimmte. Die Sozialisation
in beiden Teilen Deutschlands war nun mal verschieden bis
gegensätzlich. Von Zusammengehörigkeit konnte bisher nur als Ziel, nie
als Zustand gesprochen werden. Am Beginn des Weges stand - um einen
Begriff aus der gegenwärtigen Fusionsspirale der Wirtschaft zu
verwenden - eine feindliche Übernahme. Die ging einher mit
Beschwichtigung von Ängsten und Ruhigstellung von Opposition und wurde
schöngeredet mit einem Katalog vermeintlicher Vorteile und angenehmer
Aussichten.
Am Beginn der neuen Jahrtausends - genauer gesagt ein Jahr davor -
sollten fortwirkende Verhärtungen und aufbrechende Widerstände nicht
als Belege für Rückschritte gedeutet werden, sondern als SignaIe
besserer Orientierung. Wenn zum Beispiel 23 junge Autoren eines "Buches
der Unterschiede" hinter den Berufsbezeichnungen mit dem Kennzeichen
"Ost" oder "West" eingeordnet werden, ist solche Information zum
Verständnis der Positionen nicht überflüssig. Der Titel der
Essay-Sammlung lautet: "Warum die Einheit keine ist". Ein ermutigendes
Zeichen von Neuanfang mit realistischen Prognosen.
Nachträgliche Schuldzuweisungen verkennen die Schwierigkeiten von
1989. Die bundesrepublikanische Politik mit ihren kapitalorientierten
Szenarien liess sich nicht mit alternativem Denken und Planen, schon
gar nicht mit der Idee eines demokratischen Sozialismus in EinkIang
bringen.
Im Herbst wird ein neues Buch über den "Berliner Ring" erscheinen,
über die Veränderungen des Industrie- und Landschaftsgürtels rund um
Berlin mit seinen Übergängen und Spannungen zwischen Großstadt und
brandenburgischem Umfeld. Eine Fortsetzung des gleichnamigen ersten
Bandes von 1990, wieder von den Berliner Festspielen herausgegeben nach
einer Idee des Intendanten Ulrich Eckhardt. Im Vorwort schrieb ich
damals:
"Zu hoffen ist, dass Einsichten in die Aufhaltsamkeit des Raubbaus
wachsen, dass Plädoyers für Behutsamkeit, gegen Dominanz des
Kosten-Nutzen-Denkens Gehör finden. Und zu hoffen ist, dass mit dem
Konkurs des real existierenden Sozialismus, der in Wahrheit ein
verlogener Missbrauch sozialistischer Ideen und Ideale war, nicht ein
für allemal die unentbehrliche Utopie einer gerechteren Welt, einer
humaneren Gesellschaft auf dem Müll der Geschichte landet."
Die Hoffnung auf Einsichten blieb weitgehend unerfüllt. Aber wie geht es weiter?
In ein paar Jahren werden die Ost-Einkommen auf einhundert Prozent
angehoben sein, weil sich nicht länger übersehen lässt, dass
Tramfahrschein und Benzin, Döner aus der Imbissboutique und Flug nach
Mallorca hier wie da dasselbe kosten. Aber die polymorphen Kränkungen
werden nicht so rasch vergessen sein. Die grenzüberschreitende
Gesellschaft von BiIdzeitungslesern und Freizeitzerschredderern wird
teils separate, teils ähnliche Vorurteile pflegen. Leute mit
Differenzierungsvermögen finden eher gemeinsame Kriterien. Da hilft
bewusst machen, bewusst werden. Ehrlichkeit im Umgang miteinander.
1989 zuviel erwartet? Eher nur das Mindeste. War das zu hoch gegriffen?
1989 das Falsche befürchtet? Die Sorgen waren berechtigt. Aber können wir uns an die damaligen Ideen noch erinnern?
Johannes Heisig
Immer, wenn ich an die Veranstaltung in der Akademie zurückdachte
in den vergangenen zehn Jahren, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Ich
sah dann das Auditorium vor mir, die Gesichter, die mich anblickten
während meines Beitrages; merkwürdigerweise habe ich das von Christa
Wolf in besonderer Erinnerung. Skepsis und Distanz glaubte ich darin zu
lesen. Ich hatte das Gefühl, dass ich unklar geblieben war, und dass es
nicht unbedingt nötig gewesen wäre, auch hier noch meinen Senf
dazuzugeben.
Als ich nun vor kurzem die Mitschrift meines Beitrages bekam, war
ich erstaunt, einigermaßen zufrieden und auch ein bisschen bedrückt.
Trotz der Spontaneitäten und Aufgeregtheiten des Augenblicks hatte ich
damals etwas gesagt, was ich auch heute nicht wesentlich modifizieren
müsste. Solche Bestätigung stimmt nicht nur froh, denn in manchem hätte
ich mich lieber geirrt.
Zum Beispiel in der Frage der Gnadenlosigkeit ökonomischer
Bandagen: Inzwischen hat die Kulturpolitik (in Berlin so überzeugend
repräsentiert durch Herrn Radunski) längst letzte Widerstände
aufgegeben und das Primat des ökonomischen Ertrags verinnerlicht. Die
Gewinn- und Leistungsfetischisierung ist selbst und an sich geradezu
ein KuIturphänomen geworden. Nicht mehr weit ist es bis zum bekennenden
Rückzug des Staates aus seinen Verpflichtungen für Kultur und Bildung,
denn: alles muss sich rechnen.
Auch blieb der Diskurs auf Augenhöhe zwischen Ost- und Westkunst
ein frommer Wunsch. In allen Lagern zieht man den bequemen Weg vor:
bewusst verkürzte Zeichnung des "Gegners" hält die eigenen
Argumentationsgebäude einigermassen intakt. Überhaupt blieb es
Illusion, aus dem neuen Deutschland ein neues Deutschland zu machen.
Noch heute verspricht sich der Bundeskanzler: Wenn er "Wir" sagt, meint
er die alten Bundesländer. Vielleicht brennen ja auch inzwischen ganz
andere Themen auf den Nägeln.
Der damalige Ausgangspunkt der Versammlung in der Akademie wurde
beschrieben mit einem Versuch zur "demokratischen Begegnung zweier
deutscher Kulturen". Richtigerweise wurde da ein Kulturbegriff benutzt
der über seine übliche Reduktion auf das Betreiben von Opernhäusern und
Hochschulen hinausgeht und eine innere Verfasstheit, eine Lebensform
meint. Wie groß die Gräben aus diesem Blickwinkel heraus waren (und
teilweise immer noch sind), haben die folgenden Jahre erst deutlich
gemacht. Es ist nicht gelungen, aus diesen Spannungen Energie zu
gewinnen, etwa für die Gestaltung neuer europäischer Zusammenhänge.
Jedenfalls waren die von den Polarisierungen der Nachkriegszeit
Gezeichneten damit überfordert, sich dieses Deutschland neu zu denken.
Entscheidend wird die Sicht einer Generation sein, die nach 1989
erwachsen wurde und wird. Denen hätte man die Sache freilich etwas
erleichtern können, etwa im Vorleben der Erkenntnis, dass Ungewohntes
nicht a priori bekämpft werden muss, sondern bereichernd wirken kann.
So bleibt der Ansatz der "KulturInitiative '89" von damals aktuell,
weitere, permanente, "Zwischenreden" sind nötig.
Werner Liersch
Die große Welle vor Augen, war das 1989 gesagt worden. Die Namen
stimmen, von heute aus gesehen, nicht unbedingt, es waren Synonyme, und
die Abwicklung des DDR-Verlagswesens sollte andere Wege noch gehen, als
die im Dezember 89 erkennbaren, doch die damaligen Tendenzen haben sich
nicht dementiert. Was sich Ende 1989 abzeichnete, wäre der heutigen
Entwicklung anzunähern. Von den gegenwärtig rund 80 000 im Jahr
produzierten Buchtiteln, entfallen auf die "neuen Bundesländer"
beispielsweise ganze 4,6 %. Und die traditionsreiche Buchstadt Leipzig
steht heute an 16. Stelle in der Liste der deutschen Verlagsstandorte.
Für gewisse Vorgänge in der Geschichte ist das Wort "Restauration"
gebräuchlich. Das Charakterwort des letzten Jahrzehnts deutscher
Geschichte heißt "Rückabwicklung". Es ist keine polemische Erfindung,
es ist legitimistisch. Die altbundesdeutschen Eliten gebrauchen es im
Hinblick auf bestimmte von ihnen gesteuerte gesellschaftliche Prozesse
in Ostdeutschland. Es ist die verbeamtete Form des alten Wortes, das in
der Sache regiert. Die Rückabwicklung ostdeutschen Besitzes in andere
Hände umfasst ja mehr als das Materielle. Der Bestand an Geschichte,
Lebens- und Kulturerfahrung, sozialen Kommunikationsweisen ist diesem
Prozess mitunterworfen. Es geht in ihm drastisch zu. Ungeniert etwa
werden Bilder vergangenen und heutigen ostdeutschen Lebens produziert,
die, würde von Italienern, Türken, Japanern, Farbigen so geredet, ihren
Urhebern mit Recht den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit einbringen
würden. Monika Maron hat erstaunlicherweise daran en detail und en gros
ihren Anteil. Die Beiträge reichen von der Nachwendeerregung über
Fleischpakete in den Einkaufswagen der Ostdeutschen bis zu ihrem in
einer Laudatio zur Verleihung eines Journalistenpreises
eingeschlossenen Postulat von 1999, dass es keine ostdeutsche Kultur
gegeben habe. Verdutzt reibt man sich die Augen. Alles, alles war ganz
anders. Reihenweise saßen die Kinder in den Kindergärten zur Einübung
des Systemzwangs auf den Nachtöpfen. Später wurden sie Skinheads.
Alles, alles war ganz anders. Selbst die Abschaffung der DDR durch ihre
Bürger im Herbst 89 sieht sich als Eigentum dieser Bürger in Frage
gestellt. Mit Selbstverständlichkeit suchten die Öffiziösen bei der
öffiziösen Feierstunde des Bundestages zum zehnten Jahrestag des
"Mauerfalls" unter sich zu bleiben. Bei der Zusammenstellung der
Rednerliste fielen nur sie selbst sich als Redner ein. Alles ist
gleich, nur anders, heißt ein geflügeltes Wort. Zum 30. Jahrestag der
"Befreiung vom Faschismus", dem 8. Mai 1975, tauchten in der DDR-Presse
Beschreibungen der Eroberung des ersten Oderbruchdorfes auf der
Westseite des Stroms durch sowjetische Soldaten im Januar 1945 auf, die
sich wenigstens für Zeitzeugen seltsam lasen. Keine Rede, dass die
Dorfbewohner das Weite suchten oder sich verbargen, wie es der Wahrheit
entsprochen hätte. Von ihrem Erstaunen war zu lesen. Doch der Tenor war
klar. An einem der künftigen "Tage der Befreiung vom Faschismus" würden
sie die Rotarmisten als "Befreier" begrüßt haben. Zu welcher
Unerkennbarkeit wird es die ostdeutsche Geschichte bringen? Es ist zu
keinem kleinen Teil die Manipulation der DDR-Wirklichkeit, die sie
nicht vergangen sein lässt.
Im Dezember 89 hatte ich gewünscht, ein Mangel sollte erhalten
bleiben, der Mangel an Anpassungsfähigkeit in der DDR-Kunst. Er ist ja
ein Bestandteil von Literatur überhaupt. Günter Grass wird nicht müde,
von ihr eine subversive Kraft zu verlangen. Und das ist mit Gewissheit
etwas anderes als postmodernes Auffälligwerden. Es gibt keinen
schlichten Ost-West-Konflikt. Das Grasssche Essentiell hatte Hermlin
als das Recht der Dichter, zu träumen, vorgebracht. Natürlich war nicht
eine wesenlose Phantasterei gemeint. Gemeint war, das Bestehende nicht
als das einzig Mögliche zu nehmen. Es war die Erinnerung, dass die
Literatur darüber hinausgehen und versuchen sollte, das vorgeblich
Unausweichliche zu durchlöchern. Leszek Kolakowski sah vor langem schon
den Menschen ohne Alternative seine Menschlichkeit einbüssen. Die
große, nach 89 einsetzende Verdammung der "Utopie", zeigt spätestens
heute ihren Marktbereinigungscharakter. Nichts soll dem scheinbaren
Fatum des Marktes entgegen stehen. Keine anderen Erwägungen dürfen
neben ihm Platz haben. Kein Platz mehr für die Ansprüche der
jahrhundertelangen Humanisierungs- und Aufklärungsgeschichte.
Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit- Spottgeburten. Unmoderner Kram.
Vor fünfzig Jahren meinte Thomas Mann sagen zu können, die Zeiten des
"Manchestertums und passiven Liberalismus" seien vorbei. Heute halten
Pierre Bourdieu und Günter Grass in einem Gespräch für möglich, dass
die Traditionen der Aufklärung abbrechen könnten.
"DDR" hat wenig verwertbare Antworten in ihrer kurzen Geschichte
produziert. Aber doch ein paar brauchbare, subversive Fragen an eine
Gesellschaft und ihre Oberen. Einige lohnen, weiter gestellt zu werden,
wie etwa die Einforderungen von tatsächlicher, nicht durch materielle
und politischer Repression, Monopolisierung der Diskurse
eingeschränkter Freiheit. Es wäre bemerkenswert, würden die
bundesdeutschen Eliten sie heute ähnlich favorisieren wie 1989.
Klaus Staeck
RÜCKBLlCK
Mit dem Abstand von zehn Jahren lesen sich meine schon damals recht
skeptischen Einlassungen doch etwas wundergläubig. Die erhofften neuen
Strukturen wuchsen nicht aus den Ruinen. Auch Erhaltenswertes fiel der
Dampfwalzenpolitik West zum Opfer. Der erhoffte intellektuelle Schub
von den Kollegen Ost, die immerhin zum Sturz einer maroden Diktatur
beigetragen haben, ist ausgeblieben. Die ebenfalls reformbedürftigen
Verhältnisse West kamen nicht auf den nun gesamtdeutschen Rütteltisch.
Dem Generalverdacht, die meisten DDR-Künstler wären, weil
PriviIegienempfänger, Handlanger eines Unrechtssystems gewesen, waren
die Neubürger hilflos ausgeliefert. Zumal sich einige ehemalige
DDR-ÜbersiedIer an dieser von Regierungsseite durchaus gewolIten
intellektuellen Demontage äußerst aktiv beteiligten.
Obwohl man es ahnte, wollte man es damals noch nicht glauben, dass
der staatlichen Vereinigung keineswegs der Zusammenschluss der
zahlreichen Institutionen und Vereinigungen folgte. Ich habe mich in
der FoIgezeit um ein möglichst gleichberechtigtes Zusammengehen der
beiden deutschen Akademien und PEN-Zentren erfolgreich aktiv
eingesetzt. Der Kampf um die Rettung des Radiosenders DS-Kultur war
insofern nicht ganz erfolglos, als der ehemalige DDR-Sender im
DeutschlandRadio aufging.
Gegen die CDU-Parole "Wir sind ein Volk" war kein Kraut gewachsen mit allen bis heute absehbaren Folgen.
31. 01. 2000
Sabine Weissler
Wiedervereinigtes Wetter
Dezember 89 war zuallererst Dezember. Es war nasskalt und früh
dunkel. Eigentlich musste man immer noch "Eintritt" bezahlen, wenn man
nach Ostberlin einreiste. Aber durch Absprachen und Interventionen, die
mir irgendwie unheimlich waren, blieb den Teilnehmerinnen und
Teilnehmern des Treffens diese Zahlung erspart.
Ich überschritt die Grenzen an der Invalidenstrasse. Zu Fuß! Dort
war ich immer nur mit dem Auto 'rübergefahren'. Die Akademie Iag gleich
hinter der Grenze. Das hatte ich kurz vorher überrascht auf dem
Stadtplan gesehen. Ich wohnte also gar nicht weit weg von der "Akademie
der Künste zu Berlin". "Zu" - wohlgemerkt. Am "zu" konnte man sie als
Ost-Akademie erkennen.
Ich wusste wie ich von der Grenze zur "Ständigen Vertretung" kam.
Der Rest der Ostberliner Topographie war mir unbekannt, Ostberlin
gehörte nicht zu meiner Wahlheimatstadt. Es war Ziel touristischer
Exkursionen. Auch beruflich führten diverse Besuche dorthin. Diese Orte
hatte ich auch wieder gefunden. Der gewaltige Rest aber war dunkel oder
sehr schlecht beleuchtet, roch im Winter noch schlimmer als SO 36 und
war irgendwie leer. Da die dortigen über 1,5 Millionen Einwohner nicht
zu sehen waren, mussten sie sich offensichtlich anders und an anderen
Plätzen bewegen als wir das im Westen taten. Sie waren in der Regel
nicht draußen. Nur vielleicht am 1. Mai, da war ich aber nicht drin -
in Ostberlin. Da sah ich das dortige Leben im Fernsehen. Alles so schön
bunt dort. Kaum zu glauben, dass in Ostberlin das gleiche Wetter wie im
Westen herrschte. Es hatte geregnet und vielleicht regnete es immer
noch. Alles glänzte nass. Im Westen und im Osten.
Ein Zöllner nahm meinen behelfsmäßigen Personalausweis. Er suchte
meinen Namen auf einer Liste. Ich erhielt irgendwelche Zettel und
durfte einreisen. Das ging recht schnell. An der Grenzbude standen
schon andere Menschen, die ich kannte, und es begann ein Geschnatter.
Während ich einigermaßen fasziniert und immer noch sehr misstrauisch
die Rituale dieser neuen Grenzkultur erlebte, sah ich in dieser feucht
glitzernden Dunkelheit große weißbunte Pakete von West nach Ost gehen.
Viele, sehr viele. Auf einigen stand Persil, auf anderen Ariel. Die
Pakete schaukelten knapp über dem Boden. Der Abstand zwischen ihnen war
unregelmäßig, manche gingen nebeneinander her. Hin und wieder konnte
ich dazwischen zerbeulte Aldi-Tüten erkennen, die aber durch ihre
unregelmäßigen Formen nicht die behäbige Würde der Pakete ausstrahlten.
Die spazierenden Waren faszinierten mich. Dass Menschen von West nach
Ost nach Hause gingen mit jenem müden Schrittmaß, wie man es nach
längeren Einkaufsbummeln im Dezember eben noch aufbringt. All diese
abgekämpften Einkäufer waren winterlich dunkel gekleidet. Ich nahm sie
nur wie murmelnde Schatten wahr. Schwarzes Theater.
Auf zur Akademie, Saal finden. Merke: Es gibt also zahlreiche Räume
in dieser Stadt, mit denen ich nicht vertraut bin. Aber mit dem
routinierten Partyblick findet man auch in diesem Saal, der irgendwie
an einen Hörsaal in Heidelberg erinnerte, sofort seine lnseln der
Vertrauten und steuert auf die entsprechende Sitzgelegenheit zu. Man
trifft Leute, die man mag und solche, die man nicht leiden kann, aber
die leider immer da sind. Es ist wie immer und überall. Das ist die
zweite Überraschung an diesem Abend. Sieht man ab von der unglaublich
historischen Bedeutung und dem ganzen Tamtam, wehte zumindest meinem
Empfinden nach der Hauch beginnender Normalität durch den Saal. Schon
die Tatsache, dass alle nicht sittsam da saßen und den "kulturvollen"
Abend diszipliniert an sich vorüber ziehen ließen, sondern quatschten,
winkten, sich kennenlernten, beobachteten und einander abschätzten.
Ständig fragte man jemanden, wer wohl der da hinten sei, oder jener
Redner, wo der herkommt, oder man beantwortete solche Fragen.
Im Raum schwebte die Neugier. Und sie hatte alles Hintergründige
für diesen Moment verloren. Es war eine Versammlung der Zukunft. In der
Rückschau habe ich den Eindruck, dass sehr viel mehr mitgeteilt als
zugehört wurde. Es war ein einziges Vorstellen, Öffnen. Die
Normannenstrasse war gerade nicht gestürmt worden. Es war nicht klar,
welche Lügen und Wahrheiten noch Herzen brechen würden.
Gisela Oechelhaeuser
Zur Moderation der "Zwischenrede" am 22.12.1989 - Erinnerungen 10 Jahre danach
Ich erinnere mich recht genau an das Gespräch mit Dietrich
Mühlberg, währen dessen er mich fragte, ob ich wohl die Moderation für
die "Zwischenrunde" am 22.12.1989 übernähme. Wie so viele hatte auch
ich in diesen wilden Herbstwochen Aufgaben übernommen, die mich in bis
dahin nicht erlebter Weise forderten.
Im Oktober 1989 hatte ich im "Haus der jungen Talente" in Berlin
ein europaweit übertragenes Zusammentreffen von Oppositionellen und
gesprächsbereiten Funktionären der DDR moderiert. Vielleicht dachte
Dietrich Mühlberg, ich sei geübt in der Moderation explosiver
Gesprächsrunden. Vielleicht war ich auch einfach nur die
Quoten-Ossi-Frau. Jedenfalls sagte ich zu. Ich war des Erfolgs nicht
gewiss.
Ich hatte keinerlei konkrete Vorstellungen von den West-Kollegen,
auf die wir da treffen würden. Natürlich hatte ich durch die
Kulturinitiative´89 den einen oder anderen Namen gehört. Jedenfalls war
ich sehr aufgeregt. Beruhigend wirkten folgende Überlegungen: Wer
sollte unsere Interessen vertreten, wenn nicht wir selbst, und die dort
eingeladenen Künstler und Geistesschaffenden waren mir mehrheitlich
bekannt. Bekannt war mir folglich auch das Mehrheitsbestreben, die
Gunst der Stunde zu nutzen und einzugreifen in die Gestaltung des zu
bewertenden deutsch-deutschen Kulturverhältnisses.
Die Veranstaltung selbst habe ich durchaus ambivalent im
Gedächtnis. Im Vorbereitungszimmer in der Akademie am Robert-Koch-Platz
traf ich auf Ulrich Roloff-Momin. Ich fühlte mich freundlich
angenommen, er schien - wie ich - die andere unbekannte Seite
freundlich gelten zu lassen. Dann ging ich in den großen Saal und
entdeckte zu meiner großen Freude viele bekannte Gesichter: Christa
Wolf, Volker Braun, Jo Jastram. Beruhigend sagte ich halblaut vor mich
hin: "Das sind ja lauter Bekannte". Darauf der neben mir stehende
Stefan Hilsberg: "Ja, eben". Das war durchaus nicht freundlich gemeint.
Die Veranstaltung habe ich quälend im Gedächtnis - der Funke wollte
nicht überspringen. Die bleichen Gesichter der Künstler aus der DDR
ließen mich an ein Leichenschauhaus denken. Da war nichts von
energischem Aufbruch in ungeahnte Möglichkeiten, vielmehr war da die
Lähmung vor der ungewissen Zukunft. Da war auch die Bereitschaft, die
Erfahrungen der jeweils anderen Seite gelten zu lassen. Viel
Selbstvertrauen seitens der ostdeutschen Künstler war da nicht. Dennoch
überwog ein Gefühl, ganz einfach so zu beschreiben: Das war jetzt gut,
dass wir uns getroffen haben - das weitere wird sich finden.
In den Folgemonaten nahm die Kommunikationsbereitschaft ziemlich
schnell ab. Uns wurde sehr deutlich gesagt, dass ein vereinigtes
Deutschland sehr wohl auf unsere Erfahrungen verzichten könnte. Ich
selbst war dann auch nur noch sporadisch Gast bei der Kulturinitiative.
Die Arbeit an meinem Kabarett erforderte alle Kraft. Auch dort
versuchten wir, enge Kontakte zu unseren Westkollegen zu knüpfen. Wir
luden regelmäßig Westkabarettisten als Gast in unsere Satiresendung
"Der scharfe Kanal" ein. Ebenso empfingen wir die Westkollegen mit
ihren Gastspielprogrammen. Wir trafen uns zu Hause ließen sie
teilnehmen an unserem Alltag, immer in dem Wissen: die gemeinsame
Sprache hat uns doch Jahrzehnte getrennt. Also wollten wir nachholen
durch Erzählen und Zuhören. Auf Augenhöhe ankommen, war unsere
Sehnsucht.
Manchmal schien das sogar zu gelingen. Aber es schien wohl nur so.
Für die meisten der Westkollegen, allmählich auch für weite Teile der
Ostkollegen, war es viel zu anstrengend, sich jenseits der Klischees
des Kalten Krieges ein realistisches Bild von sich selbst und dem
Zusammenleben beider deutscher Staaten zu machen. Die Klischees sind
ein so unglaubliches Ruhekissen. Darauf sollte man freiwillig
verzichten?
Vor Jahresfrist hatte ich mit einem Westkollegen ein Streitgespräch
im Auftrag des "Spiegel". Ich hatte diesen Kollegen mehrfach als
Mitwirkenden in der Fernsehsendung "Der scharfe Kanal" gesehen, aber
auch als Gast mit einem abendfüllenden Programm. Jedesmal hatten wir
zusammengesessen und lange erzählt. Jetzt, im Januar 1999, spürte ich
während des mehrstündigen Gesprächs, dass da Wichtiges ungesagt blieb.
Ich fragte nach und bekam zur Antwort: "Das wäre doch unerhört!" Auf
meine Frage "Was?" erhielt ich zur Antwort: "Dass ihr einfach so
weitergemacht habt - aus der Diktatur kommend!" Ich war perplex:
Weniger über seinen Vorwurf, sondern dass er ihn solange
unausgesprochen vor sich hergetragen hatte. Ich vermute mal, die
nächste fruchtbringende "Zwischenrede" sollte den Titel haben: "Was wir
uns schon immer einmal sagen wollten."
Die Klischees werden nicht besiegt, es sei denn, sie werden
öffentlich eingestanden (gemacht?). Der unabweisbare erste Schritt für
ihre Überwindung.
28. März 2000
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