Report | Kulturation 2019 | Harald Dehne | Alf Lüdtke - Ein eigen-sinniger Baumeister der Alltagsgeschichte
Ein Nachruf
| Alf Lüdtke - geb. am 18.Oktober 1943 in Dresden, gest. am 29.Januar 2019 in Göttingen
Wir haben einen großartigen Menschen verloren, der als ein
Architekt und Baumeister der Alltagsgeschichte bereits selbst in die
Geschichte eingegangen ist. Ein schmerzlicher Verlust. Wir können uns
aber glücklich schätzen, dass er uns ein so reiches Werk hinterlassen
hat. Das haben wir gewonnen. Dieses steht uns zum weiteren Gebrauch zur
freien Verfügung.
Alltag, Erfahrung, Eigensinn - historisch-anthropologische
Erkundungen - so hieß vor zehn Jahren die Festschrift zum 65.
Geburtstag des Historikers Alf Lüdtke, die Belinda Davis, Thomas
Lindenberger und Michael Wildt 2008 publizierten. Jedes einzelne Wort
im Titel beschreibt präzise jene "Linsen", die er in seinem forschenden
Blick während seiner über fünfzig hochproduktiven Jahre verwendete. Und
die er auch immer wieder erneuerte - sei es, weil sie blind zu werden
drohten, oder weil er auf neuen Einstellungen beharrte. Damit hat er im
Bemühen um Rekonstruktionen historischer Wirklichkeiten unseren
Verständnismöglichkeiten bislang verborgene bzw. unbekannte Dimensionen
eröffnet.
Alf Lüdtke war einer von jenen, die das Wort Alltagsgeschichte in
den vergangenen Jahrzehnten am häufigsten ins Gespräch gebracht haben.
Auch Begriffe wie Zumutung, Gemengelage oder Meandering bringe ich mit
ihm in Verbindung. Allen jedoch, die sich im Bereich der
Geschichtswissenschaften auskennen, ist auch das Wort Eigen-Sinn
begegnet. Dieses hat er nicht erfunden - Hermann Hesse hat Eigensinn
1919 mal als die einzige Tugend bezeichnet, die er liebe - , aber er
hat dieser später dann etwas veränderten Wortschreibweise einen (neuen)
eigenen Sinn beigefügt. Und damit eine früher nicht dagewesene
Aufmerksamkeit hergestellt für die vielschichtigen Begleitumstände von
Akteuren, die jeweils zum konkreten Handeln "ge-nötigt" waren, für
Handlungsrahmen und Grenzen, für zufällige und spontane Reaktionen, für
reale oder fiktive Spielräume.
Die groben Koordinaten des Lebens von Alf Lüdtke sind allgemein
bekannt: geboren in Dresden, aufgewachsen in Ostfriesland, Studium in
Tübingen, Promotion in Konstanz. Seit 1975 war er wissenschaftlicher
Referent am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen.
Habilitation 1988 in Hannover. Regelmäßig war er als Gastprofessor in
den USA, in Israel und seit Mitte der neunziger Jahre in Südkorea
unterwegs. Als er und sein MPI-Kollege und Freund Hans Medick Ende der
neunziger Jahre endlich die Arbeitsstelle Historische Anthropologie des
MPI Göttingen an der Universität Erfurt gründen konnten, wurde er dort
als Professor für dieses Fachgebiet berufen.
>>Siehe: Historisches Seminar der Universität Erfurt
>>Siehe: Internationales geisteswissenschaftliches Kolleg Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive
Drei große Bereiche "sozialer Praxen" können herausgehoben werden.
Erstens: Herrschaft und staatliche Gewalt als soziale Praxis. Sein
Interesse an den Formen staatlicher Gewaltpraktiken begann mit seinem
Dissertationsthema über die staatliche Gewaltsamkeit in Preußen 1815-50
und reichte über Kaiserreich und Nationalsozialismus bis hin zur
Analyse der Praxis der Passkontrolle an den Grenzübergangsstellen der
DDR, als er 2012 anthropometrische Muster der Personenidentifikation
beschrieb.
Zweitens: Arbeit als soziale Praxis, insbesondere Arbeit als
Widerspruch zwischen Produktion und Destruktion, z.B. in Kriegen.
Kriegsgewalt konnte Alf Lüdtke auch als Kriegs-Arbeit betrachten:
Arbeit als Produktion, aber auch als Destruktion, also Kriegs-Arbeit -
ein Thema, das er bis zum Schluss verfolgte, zuletzt als Fellow am
re:work in Berlin. Auch im Bereich Arbeit konnte er mit den Arbeitern,
die selbst zwischen Weltgeschehen und individuellem Alltagsleben
"mäanderten", sensibel und kritisch zugleich mitgehen, etwa bei dem
Tagebuch schreibenden Krupparbeiter, der Reichstagswahl und
Frühjahrsbestellung seines Gartens zusammen dachte und notierte.
Drittens: Alltagsgeschichte und Eigen-Sinn, wozu er
theoretische Überlegungen und unzählige praktische Beispiele lieferte.
Der Begriff Eigensinn wurde von ihm ursprünglich auf Handlungen von
Fabrikarbeitern im Deutschen Kaiserreich bezogen, er verweist aber auch
generell auf die Mehrdeutigkeiten von Verhaltensweisen.
>>Siehe: Wolfgang Sofskys Holbach-Institut
Eigen-Sinn, Zumutung, Gemengelage, Meandering sind
Begrifflichkeiten, die deutlich machen, dass Alf Lüdtke keine leichten,
eindimensionalen Antworten akzeptierte. Er setzte Fragen und Befunde
gern in Anführungszeichen, um sie als Möglichkeiten, als Anfang, als
vorläufig kenntlich zu machen - denn endgültige Antworten waren ihm
zuwider, und selbst mit eigenen Erkenntnissen war er oft nur teilweise
zufrieden. Perfektion als Ideal? Vielleicht - die Möglichkeit des
eigenen Irrens war ihm immer bewusst. Aber er hatte den Mut, die im
Raum stehende Fragestellung auch noch weiter auszureizen. Und er zeigte
die Ambivalenzen von Befunden auf, die eindeutige Erkenntnisse hätten
sein können - es aber keineswegs waren! Was sich durch forschendes
Bemühen erkennen und schließlich, aber vielleicht nur vorläufig
(hin-)schreiben läßt, ist ein Teil der (historischen) Wahrheit - aber:
Wir müssen weiter suchen. Man kann das nörgelig finden, aber es
spannend und perspektivreich zu finden, wäre mit Sicherheit viel
besser.
Er ging gern auch unbequeme Pfade, abseits des
sozialwissenschaftlichen Mainstreams. Auch sein Karriereweg war kein
gewöhnlicher. Als ein moderner Mensch zeigte er sich avantgardistisch
als Papa, der mit seiner Tochter Insa bereits Ende 1972 drei Jahre zu
Hause blieb, während seine Frau zur Arbeit fuhr. Erst danach erhielt er
seine eigene Festanstellung am MPI.
Ich habe Alf Mitte der achtziger Jahre kennen gelernt. Sein
Interesse an Varianten des Cultural approach hatten ihn auch
Aktivitäten der Kulturwissenschaft in der DDR, resp. der
Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, und der
Volkskunde an der Akademie der Wissenschaften der DDR wahrnehmen
lassen. Deren Anlehnung an Ansätze von Raymond Williams, E. P. Thompson
und des Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham (CCCS),
später an Pierre Bourdieus Ansatz zur sozialen und kulturellen
Differenzierung fand er interessant und erkannte Schnittpunkte mit
seinen eigenen Überlegungen zu einer historischen Kulturwissenschaft.
Er nahm an einer Konferenz zum Thema Freizeit teil, die die Berliner
Kulturwissenschaft um Dietrich Mühlberg 1986 veranstaltete. Da er
meinen Aufsatz zur Alltagsgeschichte im Jahrbuch für Volkskunde und
Kulturgeschichte kannte und einen Sammelband zu diesem Thema
vorbereitete, bat er mich um einen Beitrag dafür. Zugleich lud er mich
in das MPI nach Göttingen ein - ein erstaunlich mutiger, wenn nicht gar
verwegener Schritt, wie mir schien. Aber Ende 1987 durfte ich
tatsächlich zu einem Studienaufenthalt reisen. Für eine Woche lernte
ich die Gastfreundschaft der Familie Lüdtke kennen. Darüber hinaus
gelang Alf Lüdtke und Hans Medick das Wunder, Wege zu finden, um mich
durch die "reiche Schweiz" mit CHF zu "bemitteln", so dass ich 1989
neben Alf an der Tagung einer kleinen interdisziplinären Arbeitsgruppe
"Hungern und Essen" im Tessin das erste Mal teilnehmen konnte.
Nach der Wende organisierte Alf für mich erneut einen
Studienaufenthalt am MPI; zu meiner Ausbeute gehörten Anregungen
jeglicher Art - nicht nur für die Sozialgeschichte - sowie Kopienstapel
in Koffergröße.
Eine weitere eindrucksvolle Gelegenheit, Alfs Zuneigung zu
erleben, war unsere gemeinsame Teilnahme an einer Tagung zum Thema Mass
Dictatorship in Südkorea 2005. Ich hatte mein Paper von einem netten
Kollegen in der Europäischen Ethnologie ins Englische übersetzen
lassen. Bevor ich meinen Vortrag hielt, stülpte Alf den Text vor Ort
dann ziemlich um, als er bestimmte Fachbegriffe gänzlich anders
übersetzte... Angesichts seiner Hilfe bei der englischen Diskussion
erhielt ich allmählich wieder meine normale Hautfarbe zurück - was in
Anbetracht der Videoaufnahme von Vorteil war. So bleiben mir unzählige
persönlichen Erinnerungen an Besuche und Gespräche.
Der (ehemals?) ostdeutschen Kulturwissenschaft blieb er weiterhin
verbunden. So nahm er an der ersten Kultur-Enquête 1993/94 der
Kulturinitiative '89 teil und veröffentlichte seinen Beitrag
"Analogien" in den Mitteilungen aus der kulturwissenschftlichen
Forschung (MKF) Nr. 35 (Juni 1995)
Auch im Jahre 2005 beteiligte er sich mit einem Videointerview an
der zweiten Enquête zum kulturellen Wandel in (Ost-)Deutschland
>>Siehe: www.kulturation.de
Aufklärung als missionarischer Anspruch
Seine charismatische Wirkkraft hat er nicht durch dickbändige
Monografien und entsprechende Lesereisen erreicht, sondern durch sein
permanentes engagiertes Einmischen in die unterschiedlichsten Diskurse,
dezent, aber auch energisch, wenn es denn sein musste. Deshalb
engagierte er sich so sehr in der (allerdings teilweise äußerst
aufwendigen!) Produktion von Sammelbänden, für die er die
unterschiedlichsten Beiträge einwarb, gerade um die Vielfalt von
Themenaspekten und Interpretationen präsentieren zu können. Er hat
Zeitschriften mitgegründet und mitherausgegeben: die Sozialwissenschaftlichen Informationen (SOWI), die WerkstattGeschichte und die Historische Anthropologie .
Er suchte sehr früh die Internationalität, knüpfte sehr früh sein
Netzwerk (im engen Verbund mit seinen Kollegen im MPI) mit
Wissenschaftlern im Ausland, um deren fraglos vorhandene Diversität von
Sichtweisen und prägenden kulturellen Hintergründen, die diese
mitbringen würden, ins Bild bzw. Abbild bzw. Vexierbild (!) mit
einbringen zu können.
Alf war stets dialogbereit. Ich kenne kaum jemanden in der
Wissenschaftsgemeinde, der so genau und geduldig zuhören konnte wie er,
der die vorgetragenen Gedanken dann mit seinen eigenen erneut produktiv
machen und neue Ideen entstehen lassen konnte. Er konnte sich
zurückhalten, aber er gab zu bedenken... Er liebte Anführungszeichen
und Gedankenstriche, im Satz wie in Wörtern. Er suchte die
Spannungsfelder auf, dialektische Widersprüche, etwa beschreibbar in
Wortpaaren wie Produktion - Destruktion (Arbeit) oder Blockade -
Passage (Herrschaft) usw.
Woher nahm er all seine Kraft? Aus der Ruhe wohl kaum, denn die
kannte er nur als ein Wort aus dem Deutschen Wörterbuch. Was ich erlebt
habe: morgens ins Institut, mittags eine kleine Mahlzeit, Weiterarbeit
bis zum Abend, dann zu Hause rasantes Kochen und Essen, dann aber in
der Regel noch mal für eine letzte Arbeitsphase ins Institut, später
dann das Notebook auf dem Schoß. Er war grandios selbst-organisiert,
hatte bei aller Aktivität dennoch eine innere Ruhe, eine wesentliche
Voraussetzung für seine intensive Kontaktpflege, durch die er ein
großes Netzwerk unterhalten konnte.
Wo war Alf, dessen Wirkungsbereich am Ende in der Tat und ohne
Übertreibung die weite Welt geworden war, eigentlich "verortet"?
Göttingen war vermutlich seine Heimat geworden ("ohne Gänseliesel"...).
Vielleicht kann man am besten sagen, daß er dort "verortet" war, wo ein
neugierig forschender Blick noch etwas finden kann, was andere lange
übersehen haben. Darüber hinaus bleibt eine Lerngemeinde all over the
world, die Alfs Texte in vielen Sprachen studieren.
In der alten analogen Welt hätte man sagen können: Skalpell plus
Mikroskop - das bringt neue Schichten zu Tage. Heute in der digitalen
Welt könnte man sagen: Er hat eine neuartige historiografische
Zugangsweise programmiert - die wiederum eine open source ist für
kreative Weiterentwicklungen. Eine einfach zu handhabende App ist sie
allerdings nicht. Aber ein fundamentales Bildungs-Kapital! Eines, das
seinen weltumspannenden "Sieges"-Zug längst angetreten hat.
Alf brauchte nicht den Olymp der deutschen Historikerzunft - nicht,
weil er mit Anfang dreißig ein lebenslang bestallter Mitarbeiter am
renommierten MPI für Geschichte in Göttingen geworden war. Er hätte im
eigenen Saft gut schmoren können. Nein, weil er sich mit seiner
Sichtweisenrevision in eine mikroskopische Nähe zu den Akteuren begab,
die in der Geschichtswissenschaft üblicherweise so gut wie gar nicht
vorkamen, nicht wahrgenommen wurden. So wie Geschichtswerkstätten seit
den 1970er Jahren mit ihrem weitgehend unvoreingenommenen Blick
ungeahnte Quellen und Ergebnisse zu Tage förderten, so brachte Alf in
seiner Alltagsgeschichtsschreibung die Mikrohistorie zu
wissenschaftlicher Höhe. Den Olymp hat er am Ende doch "mühelos"
erreicht: Die letzten Jahre (seit 2014) war er Fellow am
Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg IGK (re:work) in
Berlin, das sich mit dem Thema Arbeit und Lebenslauf in
globalgeschichtlicher Perspektive befasst. Hier wurde anlässlich seines
75. Geburtstages am 26. Oktober 2018 auch ein Workshop für ihn
veranstaltet, den Freunde und Weggefährten von Alf Lüdtke (Thomas
Lindenberger, Michael Wildt u.a.) vorbereitet hatten.
Ich muss zugeben, dass ich lediglich einen Bruchteil seiner Texte
gelesen geschweige denn komplett verstanden habe! Vielleicht braucht es
eines Tages ein LV=Luedtke-Verzeichnis, um alle Texte zu
verschlagworten und systematisch nutzbar zu machen? Im digitalen
Zeitalter eher absurd... Aber: Eigentlich sollten alle Texte von Alf
Lüdtke im Internet vollständig lesbar erscheinen! Wo, wenn nicht dort
als einem demokratischen Medium für alle?!
Der Begriff political correctness war für ihn alles andere
als ein Fremdwort - er trat für sie ein und er lebte Korrektheit als
ein integrer und stilvoller Mensch im Alltag vor. Alf war kein
Pazifist, aber er war gegen Kriege, auch weil er gegen systemische
Gewalt war. Vielleicht könnte das Lied Göttingen der
Französin Barbara einen mahnenden und gleichermaßen viele mit Alf
verbindenden Wohlklang ergeben. Sie sang 1964 in Göttingen:
"Laßt diese Zeit nie wiederkehren
und nie mehr Haß die Welt zerstören.
Es wohnen Menschen, die ich liebe,
in Göttingen, in Göttingen."
Adieu Alf.
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