Zeitdokument | Kulturation 2/2005 | Mitteilungen aus der Kulturwissenschaftlichen Forschung MKF, Jahrgang 17 / Heft 34 / März 1994 | Kultur-Enquete 1993/94 | Worin besteht der kulturelle Wandel in Ostdeutschland, wohin verläuft er, und wie kann er wissenschaftlich untersucht werden?
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Die Beiträge zur Enquete 1993/94 können weiter unten als pdf aufgerufen werden
Dietrich Mühlberg / Herbert Pietsch
Über dieses Heft
Seit dem Herbst 1989 begleiten die »Mitteilungen« die aktuellen
sozialen Veränderungen, bringen analysierende und dokumentierende
Beiträge und Aufsätze zur jüngsten Kulturgeschichte. Sie geben einen
Einblick in den Stand der kulturwissenschaftlichen Debatten und lassen
dabei auch erkennen, wie schwach konzeptionelle Ansätze für das
Verständnis kulturellen Wandels bislang ausgebildet sind. So blieb
recht undeutlich, welche der unübersehbaren Veränderungen überhaupt als
»kultureller Wandel« angesehen und untersucht werden können. Hat es im
Osten überhaupt eigene Kultur gegeben, die nun zerfällt oder sich
transformiert? Welche der Kulturschichten und Kulturtechniken betrifft
das, welche der inzwischen traditionalen Bestände leben weiter, wo
stoßen wir auf Brüche, wo auf Modifikation des Üblichen? Handelt es
sich hierbei um die Überformung durch eine andere, eine überlegene oder
erdrückende Kultur? Ist es ein befreiender Vorgang, durch den neue
kulturelle Kräfte sich entfalten können? Läßt sich das Ganze als Moment
der schon lange anhaltenden Auflösung traditionaler Kulturen verstehen?
Nach einen halben Jahrzehnt tiefgreifender Umwandlungen wächst das
Bedürfnis nach ihrer Interpretation, zeichnen sich doch die neuen
sozialen und kulturellen Konfliktlinien inzwischen ebenso ab, wie die
weitgehend unproblematischen oder kulturell belanglosen Angleichungen
des Ostens an den Westen. Doch die Deutung dieser Vorgänge scheint
nicht einfacher, sondern eher schwieriger geworden zu sein. War vor
drei Jahren vielen noch klar, was im deutschen Osten ablaufen wird, so
ist das heute weit weniger gewiß. Von Ausnahmen abgesehen, basierten
die sicheren Zukunftserwartungen auf der Überzeugung, daß im Osten
vieles »vormodern« sei. Der Westen dagegen habe mit einem historisch
unvergleichlichen Modernisierungsschub zwischen 1950 und 1975 die
Dynamik der traditionellen Moderne bereits voll ausgeschöpft und gerate
darum nun in eine kritische Phase. Doch gerade dieser diagnostizierte
Eintritt in die »modernisierte Moderne« ist seit der Wende im Osten
wieder stärker umstritten. So sehen die einen alte soziale Konflikte
erneut hervorbrechen, während andere auf ihrer Vision einer
Zivilgesellschaft bestehen. Dritte halten beides für borniert, weil für
sie Relevantes sich ohnehin nur noch außerhalb Europas ereignen kann.
Ähnlich ablehnend einer kleinräumlichen Optik gegenüber verhalten sich
die verschiedenen negativen Visionäre. Von den früheren Fraktionen
ostdeutscher Reformer ist kaum noch etwas zu hören. Teils fanden sie
keinen Anschluß an die etablierten Diskurse, teils hat es ihnen die
Sprache verschlagen. Viele sind durch Ausgrenzung mundtot gemacht, und
so muß die Vermutung ungeprüft bleiben, daß auch bei ihnen keine neuen
Erklärungsansätze zu finden sind.
Vermutlich befinden wir uns in einer Phase allgemeiner
Neuorientierung. Es sind ja nicht nur die Interpretationsmuster der
offiziellen östlichen Ideologien weggebrochen und damit ihre
dissidenten Gegenkonzepte überflüssig. Neue konzeptionelle Angebote zum
Verständnis der sozialen Gesamtordnung sind noch ohne rechte
Überzeugungskraft. Bemerkenswert ist jedoch, daß in fast allen
Vorschlägen kulturelle Faktoren des Gesellschaftsprozesses ein
auffällig stärkeres Gewicht haben und daß sie die prägende Wirkung
politischer und sozialer Strukturen zunehmend überlagern und
vermitteln. Bekanntlich ist dann die Rede von den Folgen des
Wertewandels, von der Individualisierung, der Differenzierung der
Lebensstile, von der Pluralisierung in den Gesellungsformen, von der
Entkoppelung der Lebensführung von den typischen Mustern der alten
Großmilieus usw. Diese stärkere Gewichtung kultureller Momente findet
sich auch in Theorieansätzen, die dem sozialstrukturellen Wandel über
die Untersuchung sozialer Milieus beizukommen suchen. Ähnliches läßt
sich von den Neudefinitionen des Gesamtzustandes als den einer Risiko-,
Informations-, Kommunikations- oder Erlebnisgesellschaft sagen.
Nun werden nicht nur diejenigen, die ihre Lehrjahre mit
Marx-Studien verbracht haben, es ablehnen, die bewegenden Kräfte
menschlicher Kataklysmen, gesellschaftlicher Transformationen und
sozialer Umbrüche zuerst in der Sprengkraft kultureller Widersprüche zu
suchen, sondern sie werden bei dem Verhältnis der Gesellschaft zum
Apparat ihrer eigenen Reproduktionsbedingungen ansetzen. Dennoch könnte
es in der gegebenen unübersichtlichen Lage nützlich sein und
schließlich auch Theorieentwürfe von übergreifender Erklärungskraft
anregen, wenn wir den kulturellen Spannungen, Strukturen und Praxen
mehr Aufmerksamkeit schenken.
Wie sehr es an Erklärungsmodellen mangelt, belegen erste Versuche,
die jüngst im Westen und für den Westen entwickelten
Interpretationsmodelle auf den Osten anzuwenden. Als praktisch und
plausibel (schon wegen der außerwissenschaftlichen Evidenz) erwies sich
da die bereits erwähnte Vorstellung, daß im Osten eine »nachholende
Modernisierung« anstehe. Vom Aufholen der Rückstände war immer wieder
die Rede und auch davon, daß in Regie der reichen Altländer und in
Kenntnis ihrer Erfahrungen der Osten schneller, ohne Umwege und ohne
die offensichtlichen Modernisierungsfehler den Anschluß erreichen
könne. Ja es wurde sogar ein altes Ulbricht-Wort wieder ausgegraben,
nun solle der Osten tatsächlich »überholen ohne einzuholen«.
Nun müssen die Modernisierungsvorstellungen nicht so vordergrün¬dig
und einschichtig sein, war doch auch von der Widersprüchlichkeit solch
einer nachholenden Modernisierung die Rede, die ja Angleichung und
Deklassierung zugleich wäre, weil mehrere Bedingungen zur Poten¬zierung
sozialer Differenzierung beitrügen. Zuerst einmal laufe das Vieles in
die Gegenrichtung: Fortschritt werde nur durch Rückschritt möglich, sei
aber gewiß. Denkbar auch, daß Modernisierung nicht nur nachgeholt wird,
sondern hier ein regional und sozial relativ selbständiges
Entwicklungsgebiet eine spezifische Modernisierungsvariante auszubilden
beginne. Folgerichtig könne auch der kulturelle Wandel im deutschen
Osten keine verkürzte Phylogenese der Moderne sein, sondern eine
modifizierte Vatiante der von Westdeutschland durchlaufenen
Entwicklung.
Kulturhistoriker müssen solche Prognosen für töricht und
überflüssig halten, wie kulturwissenschaftliche Vorbehalte gegenüber
modernisierungstheoretischen Erklärungen generell unvermeidlich sind.
Dennoch frappieren sie durch die schnelle Verarbeitung bedrängender
sozialer Problemlagen. Das sichert ihnen Aufmerksamkeit, fallen doch
heute zuerst die kulturellen Folgen von sozialen Umbrüchen und
Verwerfungen ins Auge: Mit welchen Ansprüchen, Einstellungen und
Aktionen reagieren Ostdeutsche auf Marginalisierung und Ausgrenzung?
Wie werden sie die Überschichtung durch eine Elite von Zugewanderten
verarbeiten? Sind die Ostdeutschen generell besser konditioniert, mit
Ressourcenverknappung fertig zu werden? Wie werden sie den
unvermeidlich sich verstärkenden sozialen und regionalen Disparitäten
gegensteuern? Wie wird die schlagartige Entwertung fast aller ihrer
Ressourcen abgefangen? Welche ihrer habituell verankerten Erfahrungen
ermöglichen auch in den neuen Situationen die Orientierung, welche
»mentalen Bestände« und verfügbaren Praxisformen werden die
verbleibenden ostdeutschen überhaupt ins Spiel bringen? Halbwegs sicher
ist nur, daß sich Umfang und Inhalt dieses kulturellen Inventars erst
in den bevorstehenden unübersichtlichen Situationen zeigen werden.
Darum ist es ebenso unbestritten, daß kultureller Wandel erst aus der
Distanz nachgeborener Historiker erkannt und ermessen werden kann. Doch
könnte sich der Erkenntniswert aktueller Beobachtungen möglicherweise
erhöhen, wenn wir sie in ihre kulturhistorische Dimension einordnen und
mit vergleichbaren Situationen in ost- und westeuropäischen
Gesellschaften konfrontieren.
Im Osten wurde aus verständlichen Gründen schon früher gespürt, daß
»kultureller Wandel« nicht allein aus Umformungen der eigenen
Wirtschafts- und Sozialstruktur folgt, sondern auch Reaktion auf
Außeneinflüsse ist, heute also die Folge von Umbrüchen mindestens
europäischen Ausmaße. Nationale Töne deuten an, daß gerade sie die
Dimensionen und Richtungen der einsetzenden Identitätssuche
beeinflussen können und auch darüber mitentscheiden werden, welche
politische Autoritäten schließlich von den Menschen respektiert werden.
In welchem Maße dabei ethnische und nationale Mythen ins Spiel kommen
werden, ist noch ungewiß. Die Ausbildung einer spezifisch ostdeutschen
Identität ist gerade erst in Gang gekommen. Offen ist, welche
retardierenden Haltungen sie nahe legen wird, unklar ist noch, ob es
das Selbstbewusstsein einer dynamischen europäischen Region werden
kann, die sich auf Momente einer eigenen kulturellen Tradition stützen
kann.
Tiefgreifende soziale, politische und ökonomische Veränderungen im
Osten sind offensichtlich, ihre wissenschaftliche Untersuchung hat erst
begonnen. Daß sie von einem kulturellen Wandel begleitet werden,
scheint auf der Hand zu liegen. Doch recht verschieden und unscharf
noch sind die Auffassungen, worin er besteht (oder bestehen sollte),
worauf er hinausläuft und welche Folgen er für das vereinte Deutschland
haben könnte. Diese allgemeine Unsicherheit – selbst Moment und Symptom
kulturellen Wandels – drängt zu kritischer Reflexion. Darin sahen
Redaktion und Herausgeber der »Mitteilungen« einen über das
Eigeninteresse hinausgehenden Auftrag und entschlossen sich dazu,
aufmerksamen Beobachtern deutscher Kultur (aus West und Ost) zwei
Fragen vorzulegen:
1. Worin besteht der kulturelle Wandel in Ostdeutschland, und in welche Richtung verläuft er?
2. Mit welchem wissenschaftlichen Instrumentarium kann kultureller Wandel in Ostdeutschland erfaßt werden?
Im vorliegenden Heft sind die ersten Antworten auf unsere Umfrage
gedruckt – sehr verschieden in Umfang und Intentionen. Eine Anordnung
nach der Art der Rückäußerung verbot sich. Die Umfrage wird
fortgesetzt, weitere Antworten liegen und vor oder sind angekündigt.
Wenn es gelingt, das künftige Erscheinen der »Mitteilungen« zu sichern,
könnte diese Enquete eine Diskussion anregen, die den kulturellen
Wandel bei den Deutschen begleitet.
Dieses Heft enthält ostdeutsche Lebensgeschichten, durch Interview
gewonnen, interpretiert nahe am konkreten Fall, eine Gestalt des
empirisches Materials, das zumindest der wissenschaftliche Diskurs über
Kultur in Ostdeutschland braucht.
Nachfolgend können die Beiträge zur Enquete 1993/94 als pdf aufgerufen werden
Peter Alheit
Strukturelle Hintergründe kollektiver »Verlaufskurven« der deutschen Wiedervereinigung
Text Peter Alheit als pdf
Max Fuchs
Da ich weder Sozial- noch Kulturwissenschaftler bin, will ich die
Fragen ohne wissenschaftlichen Anspruch und aus meiner rein
persönlichen Sicht beantworten, die sich zudem nur auf einen
gesellschaftlichen Teilbereich, die Kinder- und Jugendarbeit
beschränkt.
Text Max Fuchs als pdf
Hermann Glaser
Wie können kulturelle Veränderungen überhaupt auf eine Weise erfaßt werden, daß aus der Analyse Handlungsmuster abzuleiten sind?
Text Hermann Glaser als pdf
Albrecht Göschel
Verlassene »Strecke« und enttäuschendes »Erlebnis«: Kulturelle Perspektiven im vereinten Deutschland
Text Albrecht Göschel als pdf
Volker Gransow
Kulturelle und politische Wandlungen in Ostdeutschland
Text Volker Gransow als pdf
Horst Groschopp
Ostdeutsche Kulturarbeiterschaft im Stellungswechsel
Text Horst Groschopp als pdf
Antonia Grunenberg
Gerne komme ich Ihrer Bitte nach, ein paar kurze, wenngleich (aus
Zeitgründen) eher kursorische Gedanken zu Ihrer Enquete »Kultureller
Wandel in Ostdeutschland« zu notieren.
Text Antonia Grunenberg als pdf
Horst Haase
Ihre freundliche Aufforderung, mich zu Fragen heutiger
Kulturentwicklung in Ostdeutschland zu äußern ehrt mich, doch fürchte
ich, Erwartungen nicht befriedigen zu können.
Text Horst Haase als pdf
Helmut Hanke
Versuchungen. Mit Georg Büchner
Text Helmut Hanke als pdf
Michael Hofmann und Dieter Rink
Mentalitätswandel in der DDR?
Text Michael Hofmann und Dieter Rink als pdf
Gerd Irrlitz
Auf Ihre Frage möchte ich nur mit wenigen Sätzen antworten, da die
Thematik sehr weit gefaßt ist und vielleicht auch weit
auseinderliegende Prozesse unterm Wort vom kulturellen Wandel nicht
genau beschrieben werden können.
Text Gerd Irrlitz als pdf
Wolfgang Kaschuba
Zwischen-Eindrücke
Text Wolfgang Kaschuba als pdf
Thomas Koch
Vermutungen über kulturellen Wandel in Ostdeutschland – die »entwicklungsnationalistische« Episode
Text Thomas Koch als pdf
Dieter Kramer
Vom Schrebergarten zum Weltmarkt
Text Dieter Kramer als pdf
Alf Lüdtke
Analogien
Text Alf Lüdtke als pdf
Jürgen Marten
Kultureller Wandel im Osten Deutschlands vermittelt sich zunächst als Verlust.
Text Jürgen Marten als pdf
Fred Staufenbiel
Der kulturelle Wandel ist gekennzeichnet durch den Zusammenbruch
des Sozialismus.
Text Fred Staufenbiel als pdf
Arnold Sywottek
Zwischen Begriffs-Not und Respekt vor den Banalitäten. Zur Diskussion über ostdeutsche Kultur nach 1945
Text Arnold Sywottek als pdf
Bernd-Jürgen Warneken
Zu einer geballten Aussage über die Verlaufsrichtung »des
kulturellen Wandels in Ostdeutschland« fehlt mir der Große Einblick
bzw. die diesen ersetzende Chuzpe. Text Bernd-Jürgen Warneken als pdf
Rudolf Woderich
Zwischen Caithness und Calabria. Zur Konstruktion kultureller Identität in Ostdeutschland
Text Rudolf Woderich als pdf
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